Archiv für 2. Januar 2022
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Wem die Stunde schlägt… – irgendwann…





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Rebloggt von Tierfreund und Religionskritiker Wolfgang – wolodja51.wordpress.com

Er ließ sich nie von Autoritäten täuschen
Laudatio auf Karlheinz Deschner von Karl Corino anlässlich der Verleihung des Wolfram-von-Eschenbach-Preises an Karlheinz Deschner im Jahre 2004
«Man müßte schreiben, ohne eine Sekunde nachzudenken, man müßte drauflosschreiben wie eine Maschine, so schnell und ohne alle Hemmungen, man müßte alles herausschleudern wie ein Vulkan oder wie man sich erbricht oder was weiß ich, sobald man denkt, ist es schon vorbei, das ist meine Erfahrung». So steht es in Karlheinz Deschners erstem Roman «Die Nacht steht um mein Haus», mit dem er 1956, mit 32 Jahren, die literarische Szene betrat.
Es war ein Debüt, das im wahren Wortsinn Furore machte und die Öffentlichkeit, wie später so oft, in zwei Lager spaltete. «Deschners Prosa vom Leben und Leiden des einzelnen an der allgemeinen Unmenschlichkeit der Epoche hat an ihren besten Stellen die Durchschlagskraft eines Geschosses. Als Erstlingsbuch: eine großartige Begabungsleistung!», schrieb Karl Krolow damals, und Leslie Meier alias Peter Rühmkorf: «Ein Buch mit wunderbaren Naturschilderungen und wunderbaren Herausforderungen, lyrisch und provokant, anstößig und stimmungsgeladen, vor allem aber: von der Form her interessant» – ein Lob, das dem von Wolfgang Koeppen, Hermann Kesten, Hanns Henny Jahnn, Hans Erich Nossack, Ernst Kreuder oder Albert Vigoleis Thelen glich, während andere von einem «einzigen Zeugnis von Kraftlosigkeit» sprachen oder von einer «Roßkur».
Wenn man heute, aus einer Entfernung von fast 50 Jahren, auf dieses Buch zurückblickt, so muss man sagen, es gehört zu den wichtigen Leistungen jener Generation, die im III. Reich aufwuchs und dann in den II.Weltkrieg geworfen wurde.
Kein Zweifel, das knappe Dutzend von Deschners Essays über «Franken, die Landschaft [s]eines Lebens», die unter dem Titel «Dornröschenträume und Stallgeruch» in mehreren Auflagen erschienen, sind Filiationen jener frühen Prosa, und es ist nicht verwunderlich, dass das Verhältnis zur Natur und die Fähigkeit, sie Wortmagie werden zu lassen, für Deschner immer ein eminent wichtiges Kriterium war für poetisches Genie.
Es ist kein Zweifel, dass meine Generation, die im II. Weltkrieg, oder kurz davor, bald danach zur Welt kam, von Deschner geprägt wurde. Das gilt nicht zuletzt für die literarische Urteilsfähigkeit. 1957 erschien Deschners literarische Streitschrift «Kitsch, Konvention und Kunst», ein Büchlein von ca. 170 Seiten, das bei vielen Schülern und Studenten Epoche machte.
Es stürzte die Götter vieler unserer Deutschlehrer – Bergengruen, Carossa, Hesse – und holte die Autoren Broch, Jahnn, Musil, Trakl heim aus dem Exil und entriss sie der Vergessenheit. Deschner ließ sich nie von Autoritäten und Zelebritäten täuschen. Mochte Hermann Hesse auch seinen Nobelpreis haben – Deschner zeigte, wie epigonal dessen Prosa und seine Lyrik seien – und umgekehrt, wie originell und modern die «Schlafwandler», der «Fluß ohne Ufer», die Entwürfe zum «Mann ohne Eigenschaften».
Deschner ist als Literaturkritiker eine Potenz, und er hätte das Zeug gehabt, der führende Mann Deutschlands auf diesem Gebiet zu werden, wenn sich seine Interessen später – und mit weitreichenden Folgen – nicht verlagert hätten. Man muss nur wieder einmal in seinem Band «Talente, Dichter, Dilettanten» aus dem Jahre 1964 blättern, um mit Genuss zu sehen, wie er die Schein-Blüten entblätterte.
Und nicht minder brillant ist Deschners Analyse von Walter Jens’ Buch «Deutsche Literatur der Gegenwart» aus dem Jahr 1968. Man kann nur bedauern, dass Deschner sich nicht weitere Geistesheroen aus Jensens Umkreis zur Brust genommen hat. Es lag, wie schon angedeutet, daran, dass sich Deschners Interessen verlagerten. Von der Literatur weg zur Religionsphilosophie und zur Kirchengeschichte. Zwar schrieb er nach seinem Roman-Erstling noch ein zweites erzählendes Buch, «Florenz ohne Sonne», das ich ebenfalls gerne lese, und ein drittes, das er aber nicht mehr veröffentlichte, die Jahre zwischen 1958 und 1962 widmete er indes einem 700-Seiten-Wälzer unter dem Titel «Abermals krähte der Hahn», einer Historie des Christentums von den Anfängen bis zu Pius XII.
Es gab manche Vorausdeutungen in Deschners erstem Roman, die den Schwenk seines Denkens schon ahnen ließen: «Natürlich gibt es den Glauben, ruft nur, ruft nur, daß es den Glauben gibt, aber der Glaube ist auch nur eine Vermutung, eine Vermutung, die man sich suggerieren kann, aus Schwäche, aus Verzweiflung, aus Dummheit, aus ‹Demut›, aus ‹Ehrfurcht›, aus ‹Kraft›, aber auch der Glaube ist nur eine Vermutung unter den anderen Vermutungen, und selbst wenn ihr von eurem Glauben überzeugt seid, blindlings davon überzeugt seid, er bleibt eine Vermutung, und niemand weiß, ob dieser Vermutung etwas entspricht», so lesen wir. Es scheint, als habe Deschner gegen Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre diesen Vermutungen auf den Grund gehen wollen. Er mutete sich eine unglaublich anmutende wissenschaftliche Lektüre zu, die, wenn ich richtig gezählt habe, seinerzeit schon ca. 1000 Titel umfasste.
Er dürfte alles verarbeitet haben, was die Entstehung und die Geschichte des Christentums angeht. Die Bilanz war, was die Nachfolge Christi angeht, niederschmetternd, und ich kenne Kommilitonen, die nach der Lektüre von Deschners frühem Opus magnum das Studium der Theologie aufgaben.
Mit leidenschaftlicher Exaktheit demonstrierte Deschner, wie die Lehren der Bergpredigt, ihr zum Teil revolutionärer, mit dem Alten Testament brechender Ansatz mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch Kaiser Konstantin in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Wie die Gebote der Nächsten- und der Feindesliebe, die den Christen ein paar Jahrhunderte lang den Militärdienst verboten, umgebogen und staatsdienlich, kriegstauglich gemacht wurden. Aus Wehrdienstverweigerern und Märtyrern unter den früheren römischen Kaisern wurden nun Waffenträger und Feldprediger, die die Schwerter und Lanzen segneten. Er zeigte, wie die urchristliche Gütergemeinschaft einem urwüchsig-dauerhaften Besitzdenken wich, wie sich die kirchliche Hierarchie unter dem römischen Episkopat verfestigte, wie konkurrierende christliche Glaubensrichtungen bekämpft, verleumdet, notfalls auf Konzilien mit Stöcken niedergeschlagen wurden und wie das Papsttum mit allen Mitteln machiavellistischer Politik, lang vor Machiavelli, zu Großgrundbesitz, Größtgrundbesitz und zur weltlichen Großmacht aufstieg, gegebenenfalls anhand massiver Fälschungen: man denke nur an die sogenannte Konstantinische Schenkung, der wir den Kirchenstaat verdanken.
Immer wieder stieß Deschner auf die peinigenden Widersprüche zwischen den Geboten Christi, soweit wir sie rekonstruieren können, und der Praxis der Kirche und ihrer Diener, und die Zahl der himmelschreienden Untaten, auf die man beim Gang durch die Jahrhunderte stößt, ist wahrhaft Legion. Man denke nur an die Kreuzzüge, an die Vernichtung der Katharer, Albigenser und Waldenser (von denen ich vermutlich abstamme), an die Bauernkriege, an die Hexenverfolgungen, von denen man auch in der Markgrafschaft Ansbach und in den fränkischen Bistümern von Bamberg über Würzburg bis Eichstätt ein langes, blutiges und im wahren Wortsinne feuriges Lied singen müsste, und man stellt mit Deschner fest, dass sich Katholizismus und Protestantismus bei aller Feindschaft, der wir ja den Dreißigjährigen Krieg verdanken, mitunter in ihrer Menschenfeindlichkeit und Grausamkeit, auch in ihrem Antisemitismus verdammt wenig unterschieden.
Es gab die fatalsten Brückenschläge – was etwa Luther hetzend über die Juden schrieb, das konnte 400 Jahre später gut der «Stürmer» brauchen –, und es gab die verrücktesten Allianzen und Spaltungen. Man braucht nur an die anfeuernde Rolle der Kirchen in den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu denken, als Christen gegen Christen kämpften und die Kirchen allen Kriegsparteien versicherten «Gott mit uns», «Gott mit euch», anstatt jeden zu exkommunizieren, der die diplomatischen Feindseligkeiten eröffnete und die Waffe hob. Wenn heute einzelne Kirchenvertreter behaupten, die Auszeichnung Deschners sei ein Schlag gegen die Kirche, so muss man leider entgegnen, die schrecklichsten Schläge hat die Kirche in den vergangenen 2000 Jahren, nehmt nur alles in allem, immer gegen sich selbst geführt, gegen ihre eigenen Gläubigen, gegen die Anhänger konkurrierender christlicher Glaubensrichtungen oder die anderen monotheistischen Religionen aus dem Morgenland.
Wer geglaubt hatte, das Thema Kirche sei mit «Abermals krähte der Hahn»erschöpft gewesen, der irrte sich. Es ließ Deschner bis zu seinem 80 Geburtstag und darüber hinaus nicht mehr los. In wöchentlich 100-stündiger Arbeit legte er seit 1986 acht Bände seiner «Kriminalgeschichte des Christentums» vor, rund 4600 Seiten, denen noch zwei weitere Bände folgen sollten.
Immer eingeräumt, dass es auch vorbildliche, ebenso demütige wie mutige Christen gab, die ihr Leben für ihre Prinzipien opferten – man denke nur an den christlichen Widerstand im III. Reich, an die Bekennende evangelische Kirche und die katholischen Pfarrer in den KZs –, dies immer eingeräumt, wird es wohl keine nennenswerte Schandtat im Namen des Christentums geben, die Deschner entgangen wäre, handle es sich, weil wir in Wolframs-Eschenbach sind, nun um das Wüten des Deutschen Ordens in Polen und im Baltikum, oder um die unbarmherzige Niedermetzelung der Indios in Lateinamerika durch die spanischen Conquistadoren, von der wir beispielsweise durch Las Casas wissen.
Es gibt wohl keinen Zweifel: hätte ein Zufall oder eine «Fügung» einen Mann vom Schlage Deschners in ein früheres Jahrhundert hineingeboren, er wäre mit höchster Wahrscheinlichkeit wie Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen gelandet und man hätte ihn, mit besonderer Grausamkeit, vielleicht auf kleinem Feuer geröstet.
Es ist gewiss nicht übertrieben, wenn der Münchner Philosophieprofessor Wolfgang Stegmüller Karlheinz Deschner den «bedeutendsten Kirchenkritiker»des 20. Jahrhunderts genannt hat, und es ist nicht nur die «herrliche Mischung von leidenschaftlichem Engagement, klarster Logik, beißendem Sarkasmus und überwältigendem Wissen», die ihn zum «modernen Voltaire» stempelt (Nelly Moya), es ist auch die Einheit von Denken und Tun.
Aufgewachsen wie alle Franken – Bratwurstland – in bedenkenlosem Fleischkonsum, vom Vater her gewöhnt an Jagen, Fischen und Töten, hatte er alsbald sein Saulus-Paulus-Erlebnis. Schon in seinem Erstlingswerk lesen wir:
«… ich glaube, daß wir kein Recht haben, die Tiere zu töten, es sei denn das Recht der Gewalt. Nein, ich mache keinen wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier … wie das die Christen tun, die demütigen Christen, die so demütig sind, daß sie sich für das Ebenbild Gottes halten, für das Ebenbild eines allgütigen, allweisen und allmächtigen Gottes, für das Ebenbild des Schöpfers Himmels und der Erde. Du lieber Himmel. Was für ein Gott das sein muß, wenn man ihn beurteilt nach seinen Ebenbildern! Nein, ich habe die Jagd aufgegeben, und da ich dachte, daß jeder Fleischesser schlimmer als ein Jäger ist, und schlimmer als ein Metzger ist, da ich dachte, und ich denke es heute noch, daß es nur Gedankenlosigkeit ist und Inkonsequenz und eine gemütsmuffige Verlogenheit, wenn sie sagen: nein, ich könnte kein Tier töten, ich könnte keinem Tier was zuleide tun, wobei sie sich schütteln und entsetzte Augen machen und sich den Bauch vollschlagen mit Fleisch …, habe ich auch das Fleischessen aufgegeben».
Deschner fühlt sich in dieser, sagen wir, vegetarischen Enthaltsamkeit, die Religionen und Weltanschauungen miteinander vergleichend, den Pythagoräern und den Buddhisten wesentlich näher als dem Alten Testament mit seinem Gebot «Machet euch die Erde untertan», das ein Todesurteil für Milliarden von Tieren impliziert.
So energisch Deschner mit sprachlicher und gedanklicher Schlamperei, mit Heuchelei, Intoleranz und Grausamkeit verfährt, so entschieden vertritt er sein Plädoyer der Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft. «Denn jeder Mensch braucht Hilfe von allen», wie Brecht es formulierte.
Es ist ein Paradox, dass Deschner, auch in viele Sprachen übersetzt, eine nach Millionen zählende Leserschaft hat, dass er aber auf weite Strecken nicht überlebt hätte, nicht hätte weiterarbeiten können ohne die Unterstützung einiger Mäzene. Insofern ist der Wolfram-von-Eschenbach-Preis, der diesem Autor heute verliehen wird, nicht nur eine Anerkennung für das Geleistete, sondern hoffentlich auch eine Hilfe zur Vollendung seines Lebenswerks.
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