Was lebenswert ist bestimme ich selbst. Das lasse ich mir von niemanden vorgeben und in keinem Fall haben andere darüber zu bestimmen, schon gar nicht die Kirche. Als ich auf die Welt kam hat mich auch niemand gefragt. Das Lebensende möchte ich selbst bestimmen. Dazu muss ich auch nicht unheilbar krank oder schwer behindert sein. Wenn ich nicht mehr will, dann will ich nicht mehr. Ich hoffe ich muss mich im Fall der Fälle nicht auf die Gleise legen oder von einem hohen Gebäude runterspringen. Natrium-Pentobarbital wäre im Fall gewaltfrei.
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Von ulrich-willmes.de
Wann und warum ein Mensch sein Leben als erträglich oder sogar gelungen empfindet bzw. wann und warum er wünscht, lieber tot zu sein, lässt sich nicht generell sagen. Es haben sich schon Menschen umgebracht, die nach Meinung der meisten anderen Menschen dafür nicht den geringsten Grund hatten, während andererseits viele Schwerstkranke und Schwerstbehinderte zäh und ausdauernd um ihr Leben bzw. um mehr Lebensqualität kämpfen. Ob ein Leben lebenswert ist, hängt offenbar nicht bloß von äußeren, objektiven Faktoren, sondern in hohem Maße auch von der inneren Einstellung bzw. psychischen Verfassung ab.
Voraussetzungen
Gleichwohl lassen sich einige Voraussetzungen benennen, die bei den meisten Menschen erheblich zur Zufriedenheit mit dem eigenen Leben beitragen, nämlich
die Befriedigung körperlicher Grundbedürfnisse, insbesondere
Befriedigung von Hunger und Durst mit gesunden und möglichst auch wohlschmeckenden Lebensmitteln und Getränken
Abwesenheit von Kälte und Hitze bzw. Verfügbarkeit entsprechend temperierter Räume und/oder entsprechend temperierender Kleidung
Schutz vor Gefahren, Sicherheit vor Gewalttaten
Gelegenheit zu Schlaf, Entspannung und physischer Erholung / Abwesenheit von negativem Stress
Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen / Gesundheit im Sinne körperlichen Wohlbefindens
Gelegenheit zu sexueller Aktivität
sowie die Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse wie
gefühlte materielle bzw. wirtschaftliche Sicherheit
Freiheit / Sicherheit vor Verfolgung und Unterdrückung
als sinnvoll empfundene Tätigkeiten sowie Freude bereitende / Spaß machende Beschäftigungen
neue Erfahrungen / positiver Stress
Gelegenheit zur Zerstreuung / Entspannung und psychischen Erholung
Erfolg und Anerkennung / Selbstachtung und Selbstvertrauen
Erhalten und Schenken von Zuneigung und Liebe
Nicht alle diese Grundbedürfnisse sind bei allen Menschen und zu allen Zeiten gleich ausgeprägt: Während z. B. wohl fast alle Menschen Hunger und Durst, übermäßige Kälte oder Hitze, Überanstrengung, Schlafentzug, Folter und andere Gewalttätigkeiten nicht auf Dauer ertragen, ohne zu verzweifeln, können manche Menschen trotz schwerer Krankheiten und Behinderungen sowie ohne Sex offenbar durchaus glücklich und zufrieden leben. Es kommt anscheinend sehr darauf an, ob man das Positive, das man auch bei starken körperlichen Einschränkungen noch erleben kann, beachtet und würdigt oder ob man darüber hinwegsieht und auf jene Wünsche fixiert ist, die aufgrund der Umstände wie Krankheit, Behinderung, fortgeschrittenes Alter etc. nicht (mehr) erfüllbar sind.
Auch die psychischen Bedürfnisse unterscheiden sich von Mensch zu Mensch beträchtlich: So variieren z. B. der Wunsch nach Sicherheit und Planbarkeit einerseits und das Verlangen nach Freiheit und Abenteuer andererseits je nach Person sehr stark, wobei man wohl konstatieren darf oder muss, dass die meisten Menschen – jedenfalls im realen Leben, nicht auf der Ebene des Spiels und der Unterhaltung – mehr an Sicherheit und Planbarkeit als an Abenteuer und Nervenkitzel interessiert und dafür sogar bereit sind, auf Freiheit(en) zu verzichten. Unsicherheit und Risiken werden dagegen in der Regel nur unfreiwillig oder als unumgängliche Vorbedingungen für Erfolg und Anerkennung ertragen.
Erfolg und Anerkennung wiederum sind grundlegende Bedürfnisse des Rudeltieres Mensch: Nur wenige Menschen schaffen es, trotz ständiger Misserfolge und Entmutigungen ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln und zu behalten, und die, denen das gelingt, zehren in der Regel von der Bestätigung und Zuwendung, die sie in der Familie oder generell im privaten Umfeld erhalten haben bzw. immer noch erhalten. Selbst Schwerstkranke und Schwerstbehinderte wollen in der Regel nicht ständig bemitleidet werden, sondern akzeptiert oder sogar bewundert – und sei es dafür, wie gut sie ihr Kranksein oder ihre Behinderung meistern.
Noch wichtiger als Erfolg und Anerkennung durch ihre Bezugsgruppe ist für die meisten Menschen nur noch die persönliche Zuwendung, die ein Mensch erfährt und geben kann. Zurückweisung, Einsamkeit und Isolation werden von der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen nicht gut verkraftet und nur wenige Menschen sind sich auf Dauer selbst genug und vollkommen glücklich und zufrieden, wenn sie ungestört ihrer Arbeit bzw. ihren Hobbys nachgehen können. Allerdings ist der Mensch nicht unbedingt auf andere Menschen als Gesellschafter angewiesen: Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Wellensittiche und Papageien genügen ihm vielfach auch. Bei gottgläubigen Menschen kann das „Zwiegespräch“ mit Gott eine eventuelle Einsamkeit lindern.
Psychische Krisen und Krankheiten
Aber selbst wenn alle gängigen Voraussetzungen für ein nach allgemein akzeptierten Maßstäben lebenswertes Leben – körperliche Gesundheit, Wohlstand, Glück in der Liebe, sinnvolle und/oder Freude bereitende Arbeit/Hobbys, genug Entspannung und Erholung, Erfolg und Anerkennung – erfüllt sind, kann es einem Menschen passieren, dass er sein Leben für nicht lebenswert hält und sich umbringen will. In der Regel ist der Grund dafür kein rationaler – etwa die rationale Einsicht, dass kein objektivierbarer Sinn des Lebens existiert –, sondern ein irrationaler und emotionaler, gleichwohl aber rational fassbarer, nämlich eine psychische Krise oder Krankheit, z. B. eine Depression oder Psychose.
Viele psychische Krisen und Krankheiten kann man heute mit Medikamenten oder Verhaltenstherapien in den Griff bekommen oder sogar vollständig heilen. Man sollte deshalb nicht zögern, bei Verhaltensauffälligkeiten, Wesensveränderungen oder gar bei der Andeutung/Äußerung von Selbstmordabsichten psychiatrische und notfalls polizeiliche Hilfe zu holen. Das Problem ist, dass Depressionen, Psychosen und ganz allgemein psychische Leiden zumal dann, wenn sie mit körperlichen Beschwerden einhergehen, von vielen Allgemeinmedizinern und selbst von Fachärzten wie z. B. Neurologen oft nicht als psychische Erkrankungen erkannt und entsprechend gar nicht oder falsch behandelt werden.
Freitod
Allerdings gibt es nicht nur solche von psychischen Krisen und Krankheiten ausgelösten, nicht wirklich freien Selbstmordabsichten, sondern durchaus auch Situationen, in denen ein Weiterleben z. B. wegen ständiger starker Schmerzen, völliger Hilflosigkeit, Bewegungsunfähigkeit oder drohender Demenz, also aus nachvollziehbaren Gründen und nach reiflicher Überlegung nicht mehr gewünscht wird. Zwar kann auch ein geistig verwirrter Mensch glücklich und zufrieden sein, ohne dass er selber darauf allerdings noch irgendeinen Einfluss hätte, aber für jemanden, der es gewohnt ist, selbstverantwortlich zu handeln und nicht unmittelbar auf andere Menschen angewiesen zu sein, kann die Perspektive eines unabwendbaren und vollständigen Kontroll- und Persönlichkeitsverlustes sehr wohl ein hinreichender Grund sein, sein Leben zu beenden. Dann ist es meines Erachtens angebracht, den Willen des betroffenen Menschen zu respektieren und ihn nicht am Freitod zu hindern, weil man selber z. B. als Christ den Freitod für inakzeptabel hält und meint, es besser zu wissen als der Leidende selbst.
Abgesehen davon, dass es schwer zu verstehen ist, warum die künstliche Verlängerung des Lebens mittels medizinischer Maßnahmen dem Menschen erlaubt sein soll, die künstliche Verkürzung dagegen nicht, halte ich die Versuche mancher Christen und Kirchenvertreter, leidende, hilflose oder von Leiden und Hilflosigkeit bedrohte Menschen dazu zu zwingen, gegen ihren Willen am Leben zu bleiben bzw. ihr Sterben zu verlängern, für anmaßend und mitleidlos. Da aktive Sterbehilfe in Deutschland nicht zuletzt aufgrund des kirchlichen Einflusses verboten ist, bleibt in diesem Lande einem hilflosen, also z. B. weitgehend bewegungsunfähigen Menschen, der sterben möchte, oft einzig die Möglichkeit, sich künstliche Ernährung oder Flüssigkeitszufuhr ausdrücklich zu verbitten und die Nahrungsaufnahme zu verweigern.1
Die Alternativen für weniger hilflose Menschen, z. B. In-den-Tod-Springen, sind wohl nicht verlockender. Meines Erachtens hat dagegen jeder Mensch, der bei klarem Verstand und nicht als Folge einer psychischen Störung wie einer Depression oder Psychose Sterbehilfe – auch aktive Sterbehilfe – wünscht, in ethischer Hinsicht ein Recht darauf, sofern er nicht noch für andere Menschen (Kinder, Partner, Eltern, von ihm abhängige Beschäftigte, auf ihn angewiesene Freunde) Verantwortung trägt. Letzteres dürfte aber bei Schwerkranken oder sehr alten Menschen kaum mehr der Fall sein. Ich selbst fände es sehr hilfreich, zur rechten Zeit selbstbestimmt aus dem Leben scheiden zu können, ohne dazu eine grausame, schmerzhafte oder Angst einflößende Methode wie Ersticken, Erhängen oder eben In-den-Tod-Springen wählen zu müssen, weil der Staat mir den Zugang z. B. zu Pentobarbital verweigert.
Wer seinen Willen auch in völlig hilfloser Lage respektiert wissen möchte, sollte rechtzeitig eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht sowie eventuell eine Betreuungsverfügung verfassen und so deponieren, dass sie im Ernstfall den Ärzten und dem Pflegepersonal auch tatsächlich vorgelegt werden können. Man kann mit einer Patientenverfügung zwar keine aktive Sterbehilfe veranlassen, aber immerhin festlegen, welche medizinischen Maßnahmen einschließlich z. B. Wiederbelebung, künstlicher Ernährung und künstlicher Beatmung in welchen Fällen vorgenommen bzw. unterlassen werden sollen. Die Bestellung eines Bevollmächtigten ist ebenfalls sehr sinnvoll, damit jemand, dem man vertraut, dafür sorgt, dass die Bestimmungen der Patientenverfügung auch tatsächlich umgesetzt werden und nicht selbstherrliche Mediziner oder Pflegepersonen oder vom Gericht eingesetzte Betreuer den schriftlich fixierten Willen des Patienten aus religiösen oder sogar finanziellen Gründen ignorieren.
Die oder der Bevollmächtigte sollte den Willen des Patienten auch gegen Widerstände durchsetzen können, also z. B. fähig sein, bei Fangfragen wie jener, ob man die oder den Pflegebedürftigen denn tatsächlich verhungern oder verdursten lassen wolle, angemessen zu reagieren sowie die Zustimmung zu lebensverlängernden Maßnahmen, die nicht im Sinne der bzw. des Pflegebedürftigen sind, konsequent zu verweigern – also z. B. zum Anbringen einer Magensonde, wenn der Patient erkennbar keine Nahrung mehr aufnehmen möchte oder sogar eine solche dauerhafte künstliche Ernährung in einer Patientenverfügung ausdrücklich untersagt hat. Derartige das Leiden verlängernde Maßnahmen müssen insbesondere Privatpatienten befürchten.
Wer nach reiflicher Abwägung der nach verständigem Ermessen in der vermutlich verbleibenden Lebenszeit noch zu erwartenden Freuden und Leiden und der möglichen Folgen für seine Umgebung den Freitod wählen möchte, bevor ihn ein schweres Schicksal knechtet und ihn eventuell völlig von anderen Menschen, denen er gleichgültig ist, abhängig macht, sollte meiner Meinung nach die Möglichkeit erhalten, eine tödlich wirkende Dosis eines geeigneten Schlaf- oder Schmerzmittels einzunehmen. Warum sollte für den Menschen zum Beenden des Lebens nicht hilfreich sein, was wir unseren leidenden Hunden, Katzen und sonstigen tierischen Freunden guten Gewissens gönnen?
1 Vgl. Sie zum Sterbefasten z. B. die Website http://www.sterbefasten.de/. Vgl. Sie zum Thema Sterbekultur z. B. das Buch „Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin“ von Michael de Ridder, München 2010. Der Bundesgerichtshof hat am 25.06.2010 in seinem Urteil zum Fall Wolfgang Putz den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen auf der Grundlage des Patientenwillens für nicht strafbar und sogar für geboten erklärt (Pressemitteilung 129/10 vom 25.06.2010 und Urteil des 2. Strafsenats vom 25.6.2010 – 2 StR 454/09 –).
Entstehungsjahr: 2010
„Das Leben der Tiere besteht nur aus Leid, und dieses Leid würde ohne die Hybris des Menschen nicht existieren.“
Fleisch – Warum wir endlich aufhören müssen, das menschengemachte Tierleid zu verdrängen
Manchmal reicht die Umkehr der Perspektive, um klarer zu sehen. Eine oft strapazierte, aber immer erkenntnisreiche Annahme ist die von der Ankunft außerirdischer Kreaturen auf der Erde. Stellen wir uns vor, sie wären intelligenter als alle hier lebenden Wesen. Sie würden uns Menschen für alle möglichen Experimente nutzen, uns quälen, töten und essen. Verliehe allein der Umstand, dass wir dann in der schwächeren Position wären, den Stärkeren das Recht, mit uns tun, was sie wollen?
[…] Streicheln oder schreddern
In einer Mediengesellschaft, die Informationen über das Elend der Tierwelt sichtbar macht, ist das bemerkenswert. Wem der Zugang zu Massenmedien und Internet offensteht, kann nicht behaupten, vom herrschenden Falschen nichts zu wissen. Wer Fleisch kauft, macht sich zum Komplizen der Gewalt. Er bezahlt andere dafür, dass sie Rindern die Kehle durchschneiden und Ferkel ohne Betäubung kastrieren. Es muss also etwas anderes den Leidladen am Laufen halten als ein Defizit an Information. Vielleicht ist es vor allem diese Tatsache: Der Mensch ist ein Verdrängungstier.
Besonders grotesk äußerte sich das im Jahr 2013, als in mehreren europäischen Staaten als Rindfleisch deklarierte Lebensmittel gefunden wurden, die in Wahrheit aus Pferdefleisch bestanden. Eine Empörungswelle zog durch die Lande, die Leute spürten Ekel und Abscheu. Das mag neben der Konsumententäuschung auch daran gelegen haben, dass Pferdefleisch im kollektiven Gedächtnis negativ besetzt ist, seit nach dem Zweiten Weltkrieg in den zerbombten Straßen verendete Gaulkadaver lagen, die hungernde Menschen als Nahrungsquelle nutzen mussten. Ebenso leuchtet ein, dass Pferde als Haustiere gelten, die der sich für zivilisiert haltende Mensch streichelt und nicht schlachtet. Aber warum verhätscheln wir Hunde, Katzen und Pferde, derweil wir Hühner, Rinder und Schweine für unseren kulinarischen Genuss zu Tode quälen lassen?
[…]
In den USA wurde vor Dekaden eine Pute mit einem Übergewichts-Gen gezüchtet, damit sie schneller wächst und fetter wird. So sparen die Unternehmen hohe Futterkosten, und die Konsumenten erhalten ihr fettreiches Fleisch zum günstigen Preis. Würde man eine solche Gen-Manipulation bei einem Menschenbaby vornehmen, dann würde es mit zwei Monaten 300 Kilogramm wiegen. Das Leben der Tiere besteht also nur aus Leid, und dieses Leid würde ohne die Hybris des Menschen nicht existieren. Dabei handelt es sich hier nicht um einen Einzelfall. In einem kapitalistischen System, das Nahrung nach Profit produziert und nicht nach Bedarf, sind solche Zustände erwünscht und normal.
Fleischproduzenten berechnen mit kalter Präzision, wie nah am Tod sie Tiere halten können, ohne sie durch die Haltungsbedingungen direkt zu töten. Beinahe alle wissen das, aber fast niemand will etwas davon wissen. Wer möchte schon in einer Gesellschaft leben, in der das Essen auf dem Teller niemals das Tageslicht gesehen und die letzten Stunden seines Lebens in Todesangst auf einem Transporter verbracht hat? Wer im Fernsehen die alltäglichen Bilder von geschredderten Küken und vor Schmerz schreienden Säuen sieht, schaltet sofort weg und stopft dem Kind rasch eine Scheibe Wurst mit Bärchengesicht in den Mund, ehe sich das soeben Gesehene ins Bewusstsein drängen und womöglich ein Trauma hervorrufen kann.
[…]
Das Recht des Schwächeren
Kinder wissen intuitiv, was Erwachsene verdrängen: Die meisten von uns verspeisten Tiere sind uns näher, als wir denken. Raben und Elefanten kennen Trauerrituale, Schweine und Elstern können sich im Spiegel erkennen, Pferde können Menschen mit Zeichen zu verstehen geben, ob sie eine Decke wollen oder nicht. Lange hatte man angenommen, Fische empfänden keine Schmerzen. Diese These ist inzwischen widerlegt. Sie empfinden nicht nur Schmerzen. Viele verwenden sogar Werkzeuge, schließen Freundschaften und kennen komplexe Kommunikationsformen. Es ist sogar belegt, dass Lachse in Fischfarmen an Depression erkranken können.
Die Schriftstellerin Hilal Sezgin beschreibt in ihrem Buch Artgerecht ist nur die Freiheit (2014), was sie in der Tierversuchs- und Schlachtindustrie beobachtet hat. In einem Schweinetransporter sah sie am Rückspiegel ein Plüschschwein hängen. Auf dem Parkplatz eines Labors, das Hunde, Mäuse und andere Tiere im Auftrag der Pharma- und Kosmetikindustrie malträtiert, entdeckte sie in den Autos etliche Plüschtiere auf den Armaturenbrettern: einen Marienkäfer, eine menschengroße Schildkröte, ein Schaf und sogar einen Plüschfisch. Wer hat schon einen Plüschfisch? Das ließ Sezgin besonders aufmerken, denn in dem Labor experimentierten die Menschen auch mit Fischen.
Sind die Gegenstände also ein Versuch, das Dilemma vor sich selbst umzudeuten? Schließlich würde der Lkw-Fahrer nicht sagen wollen, er verdiene sein Geld damit, Schweine in den Tod zu fahren. Er muss sich das legalisierte Unrecht zurechtbiegen – indem er sich und anderen gegenüber behauptet, er möge Schweine und arbeite mit ihnen. Sezgin kommt zu der verblüffend optimistischen Schlussfolgerung, dass die Menschen nicht ganz unberührt seien von dem, was sie den Tieren jeden Tag antun. In der Branche sei es üblich, jedem Experimentator ein Tier zuzuteilen, das nicht in die Versuche einbezogen wird und um das er sich wie um ein Heimtier kümmern müsse. Anders sei die Arbeit im Labor kaum auszuhalten.
Sezgin berichtet von einem Ständer, an dem Flaschen hängen wie Äste an einem Baum. In diese Flaschen seien weiße Laborratten hineingestopft worden. 90 Tage lang seien sie jeweils sechs Stunden am Tag reglos darin fixiert, um Zigarettenrauch zu inhalieren. Ein Tabakhersteller wolle wissen, wie eine Rattenlunge die Geschmacksrichtungen Honig oder Schokolade vertrage. Auch das ist kein Einzelfall. Sezgin weist nach, dass sich an einigen Universitäten akademische Grade erwerben lassen mit Experimenten, in denen neugeborenen Katzen die Augen zugenäht oder Meerschweinchen-Ohren mit Gewehrschüssen beschallt werden. Für diese Tiere gibt es fast nie ein Leben nach den Versuchen. Sie werden nicht erst krank gemacht und traumatisiert, um sie danach zu heilen und in eine Art Seniorenresidenz zu bringen.
[…]
Auch der beliebteste Einwand gegen den Tierschutz ist Teil dieser Verdrängungskultur: In der Natur seien Fressen und Gefressenwerden ganz normal, und darum sei es auch immer normal, dass Menschen Fleisch essen. Doch aus dem, wie etwas immer schon war, lässt sich nicht ableiten, wie etwas sein sollte oder könnte. So schwer sich der Mensch ansonsten tut, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren, so leicht macht er es sich mit seiner Romantisierung der Natur und des Sterbens im Reich der nichtmenschlichen Tiere.Menschen haben ihre Artgenossen immer schon vergewaltigt, versklavt und ermordet. Das bedeutet nicht, dass es ein Recht darauf geben darf. Wer „natürlich“ leben will, dürfte übrigens auch nicht diese Zeitung lesen, und von seinem Zahnarzt dürfte er sich bei der nächsten Wurzelbehandlung keine Betäubung spritzen lassen.
Wo also läge die Lösung? Jedenfalls nicht darin, „Bio“ für die Masse zu kultivieren. Auch auf Bio-Bauernhöfen werden Hühnern die Schnäbel gekürzt und die Kälber ihren Müttern entzogen. Wer je den Schrei einer Kuhmutter nach ihrem Kalb gehört hat, vergisst die Bio-Illusion. Die Welt lässt sich ohnehin nicht nur mit Freilandhühnern ernähren. Dafür würden 50 Milliarden Hühner nicht reichen, es bräuchte mehr als die doppelte Menge.
Womöglich ist es in relativ wohlhabenden Gesellschaften ganz einfach nicht länger hinzunehmen, allein zum Komfort des Menschen andere Tiere zu misshandeln und zu töten. Wer dem zustimmt, für den bleibt als ethische Mindestanforderung nur eine fleischfreie Ernährungsweise. Andere Tiere essen dürften dann lediglich reine Fleischfresser – zu denen der Mensch nicht gehört.
Es ist unglaublich welche Fähigkeiten Fische haben. Fische stehen in der Werteskala von Empathie gegenüber Tieren ganz unten. Das kann sein, weil Menschen weniger in Berührung mit ihnen kommen. Jedenfalls kann man viel über Fische erfahren in dem Vortrag von Jonathan Balcombe.
»What a fish knows« – Vortrag von Jonathan Balcombe
Die große Mehrheit der Menschen sind bei Schmerzen, die Tiere erleiden müssen blind, taub und ohne Mitgefühl. Wie ist das möglich, dass sie den Schmerz und das Leid der Tiere nicht wahrnehmen können oder wollen?
Von beasbevegan.ch
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Die Tatsache, dass uns eines Tages der Tod ereilen wird, ist uns allen klar. Die einen setzen sich mit ihrer Endlichkeit auseinander, die anderen sind bestrebt, dies möglichst lange zu verdrängen…
In meiner langjährigen Tätigkeit als Krankenpflegerin, habe ich Menschen in den Tod begleitet, die entweder hochbetagt oder schwer erkrankt waren. Das grösste Anliegen der Sterbenden war nicht die Angst vor dem Tode selbst, sondern die Frage: «Wann hört der Schmerz endlich auf?» oder «Werden die Schmerzen noch schlimmer werden?»
Schmerz ist etwas, das wir unbedingt vermeiden möchten. Manchmal braucht es nur einen kleinen Schnitt am Zeigefinger und schon sind wir im Alltag beeinträchtigt. Ein Tag mit Kopfschmerzen raubt einen oft die ganze Lebensfreude und Energie. Durch Schmerz fühlen wir uns in der Lebensqualität beschnitten und es fällt schwer sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, geschweige denn, dass man noch etwas geniessen kann. Chronische Schmerzen führen oft in Depressionen bis hin zum Suizid.
Beim Thema Schmerz, müsste man also annehmen, dass der Mensch mindestens da Empathie aufbringt, wenn man ihm sagt, dass Tiere in der «Nutztierhaltung» immense Schmerzen erleiden. Tierschützer zeigen Videos von Kastenständen, in denen Schweine mit offenen Wunden in ihren Käfigen gefangen sind, Bilder von Kühen mit gebrochenen Beinen, liegend in ihrem eigenen Kot und Aufnahmen von Schweinen, die bei lebendigem Leibe in ein 60° heisses Bad geworfen werden und schreiend ihren Verbrühungstod bewusst miterleben. Trotzdem wird das Thema vom Fleischesser immer wieder auf die «humane Schlachtung» gelenkt. Obwohl es augenfällig ist, dass diese Tiere Höllenqualen erleiden, scheint dem Omnivor nur wichtig zu sein, dass das geschundene Tier fachgerecht und schnell zur Strecke gebracht wird. Es geht doch bei der Tier- und Massentierhaltung nicht nur um das Thema Töten! Es geht um die physische und psychische Qual, welche diese armen Wesen erleiden müssen – jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde und jeden Tag ihres elenden Daseins bis hin zu ihrer gnadenlosen Hinrichtung.
Was ist da geschehen, dass wir – denen man nachsagt, wir seien die einzigen Wesen, die Empathie empfinden können – nicht einmal mehr mit der Wimper zucken, wenn uns vom Elend der Tiere berichtet wird? Wo haben wir das Mitgefühl verloren? Sind wir denn überhaupt in der Lage nachzufühlen, was andere Erdlinge erleiden? Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir das nicht können, weil das ganze Gesellschaftssystem uns zu Egozentriker heranzüchtet. Wir lernen nichts über Mitgefühl, wir lernen nur, wie wir uns als Individuum mit Ellenbogentaktik und Opportunismus durchs Leben schlagen sollen. Da wir nur dahingehend «gebildet» werden in einem System zu funktionieren, welches den Mammon verehrt, werden wir abgestumpft gegenüber anderen fühlenden Wesen. Die Ausgeburt dieser Erziehung, sind die stummen, geschlagenen und gefolterten Opfer, deren Schmerzen und Qualen nicht einmal mehr anerkannt werden.
Es gibt nicht nur den Satz: «Du sollst nicht töten.», es steht auch geschrieben: «Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg auch keinem andern zu.»
„Der Deutsche Ethikrat sollte rational, evidenzbasiert und weltanschaulich neutral argumentieren, was aber durch die Überrepräsentanz kirchlicher Interessenvertreter allzu oft verhindert wird“, kritisiert der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon. Die am 30. April erfolgte Neubesetzung des Gremiums habe dieses Problem keineswegs behoben, sondern eher noch verschärft.
„Dass sich die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Ethikrates gegen Selbstbestimmungsrechte am Lebensende aussprachen und für ein Gesetz votierten, das per einstimmigen Beschluss der Karlsruher Richter für verfassungswidrig erklärt wurde, ist ein Skandal, der noch nicht hinreichend thematisiert wurde“, meint Schmidt-Salomon, der bei der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts als „Sachverständiger Dritter“ für die später erfolgte Aufhebung des § 217 StGB plädiert hatte. „Die Unterstützung eines verfassungswidrigen Gesetzes ist nur eines von vielen Indizien dafür, dass der Deutsche Ethikrat in seiner Funktion immer wieder versagt. Interessanterweise kommt es dazu vor allem dann, wenn religiöse Interessen im Spiel sind, wie auch die Debatten zur Knabenbeschneidung oder Präimplantationsdiagnostik gezeigt haben. In einem gewissen Ausmaß kann man solche Defizite tolerieren, aber: Wenn sich – wie im Fall der Sterbehilfe-Diskussion – herausstellt, dass die Mitglieder des wichtigsten Ethikrates des Landes mehrheitlich nicht in der Lage sind, auf dem ethischen Niveau des deutschen Grundgesetzes zu argumentieren, ist dies keine Lappalie, die man auf die leichte Schulter nehmen könnte.“
Nach der deutlichen Rüge aus Karlsruhe hätte man eigentlich eine Umorientierung in der inhaltlichen Ausrichtung sowie der personellen Zusammensetzung des Ethikrates erwarten dürfen, doch die am 30. April erfolgte Neubesetzung des Gremiums weise in eine andere Richtung, führt Schmidt-Salomon aus: „Durch die Neubesetzung ist der Rat nicht pluraler, liberaler oder kompetenter geworden. Immerhin gab es 2017 neun Ethikratsmitglieder, die sich in einem Minderheitsvotum für eine Stärkung der Selbstbestimmungsrechte am Lebensende ausgesprochen hatten. Von diesen liberalen Dissidenten sind nun zwei Drittel, also sechs Personen, nicht mehr im aktuellen Ethikrat vertreten. Bei den neu hinzugekommenen Mitgliedern des Rates sind Personen mit religiös-konservativen Werthaltungen überproportional stark vertreten – Menschen, von denen man leider annehmen muss, dass sie 2017 ebenfalls für ein verfassungswidriges Gesetz votiert hätten.“
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Die Besetzung des Deutschen Ethikrates ist nicht repräsentativ
Nehme man die aktuellen Mitglieder des Ethikrats unter die Lupe, falle eine „gravierende weltanschauliche Schieflage“ auf, so Schmidt-Salomon: „Unter den 24 Mitgliedern des Deutschen Ethikrats hat knapp die Hälfte einen eindeutig religiösen Hintergrund. Neun Mitglieder, überwiegend Theologinnen und Theologen, bekleiden Funktionen innerhalb der christlichen Kirchen oder deren Wohlfahrtsverbände, zwei weitere vertreten den Islam oder das Judentum, nur ein einziges Mitglied des aktuellen Ethikrats, nämlich der Philosoph Julian Nida-Rümelin, hat sich in der Vergangenheit wahrnehmbar für die Interessen konfessionsfreier Menschen eingesetzt.“ Hinzu komme, so Schmidt-Salomon, dass es weitere Ethikratsmitglieder gebe, „die zwar keine offiziellen Kirchenfunktionen wahrnehmen, aber doch entschieden für kirchliche Positionen eintreten“. Ein Beispiel hierfür sei der Jurist Steffen Augsberg, der die Anliegen radikaler „Lebensschützer“ mit entsprechenden Analysen untermaure (siehe etwa diesen Beitrag in der „Zeitschrift für Lebensrecht“) und der „rhetorisch äußerst geschickt für ein Verbot professioneller Freitodbegleitungen gestritten“ habe – sowohl als Mitglied des Deutschen Ethikrates als auch als Prozessbevollmächtigter der Bundesregierung in dem Verfahren zu § 217 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht.
Schmidt-Salomons Fazit: „Insgesamt muss man feststellen, dass der Deutsche Ethikrat in seiner aktuellen Zusammensetzung nicht repräsentativ für die Wertehaltungen der deutschen Bevölkerung ist (siehe hierzu auch die zahlreichen referierten Studien auf der Website der „Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland“). Er spiegelt weder die Überzeugungen der konfessionsfreien Menschen wieder, die immerhin 38 Prozent der deutschen Bevölkerung stellen, noch die Überzeugungen der nominellen Kirchenmitglieder, die in ethischen Fragen von den amtskirchlichen Vorgaben mehrheitlich abweichen.“ Hinzu kommt für den Stiftungssprecher noch ein zweites Problem: „Bedauerlicherweise repräsentiert der Deutsche Ethikrat summa summarum auch nicht das Niveau der akademischen Debatte auf dem Gebiet der Praktischen Ethik. Zwar gibt es Ethikratsmitglieder, die sehr wohl auf der Höhe des universitären Diskurses argumentieren, aber sie bilden in dem Gremium eher eine Minderheit. Hier rächt sich, dass für die Berufung in den Ethikrat die Übereinstimmung mit parteipolitischen Präferenzen größere Bedeutung hat als die fachliche Qualifikation der jeweiligen Kandidatinnen und Kandidaten.“
Uwe-Christian Arnold 2015 bei der Aktion „Lassen Sie das doch den Klempner machen!“ vor der Frankfurter Paulskirche
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Er hätte so gerne an der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB in der kommenden Woche mitgewirkt, doch seine Krebserkrankung war zu weit fortgeschritten: Am gestrigen Freitag starb „Deutschlands bekanntester Sterbehelfer“ Uwe-Christian Arnold in seiner Wohnung in Berlin.Noch am Abend vor seinem Tod versendete er eine Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht, sein politisches Vermächtnis. Ein Nachruf von Michael Schmidt-Salomon.
Uwe-Christian Arnold, den alle nur „Christian“ nannten, war ein außergewöhnlicher Mensch, ein furchtloser Streiter für die Selbstbestimmung am Lebensende, ein „notorischer Querulant“, der sich von den konservativen Bestimmungen der Ärztekammern nicht maßregeln ließ, ein unverbesserlicher Witzbold, der auch vor deftigen Späßen nicht zurückschreckte, ein einfühlsamer Arzt, der den Menschen in ihren schwersten Stunden zur Seite stand, und nicht zuletzt auch ein Freund, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte. Hinter seiner harten Schale verbarg er ein weiches Herz. Die Schicksale seiner Patientinnen und Patienten nahmen ihn oft sehr viel mehr mit, als er es öffentlich zugegeben hätte. Und so heftig er auch über die Vertreter des „Sterbe- und Leidensverlängerungskartells“ mit ihrem „Multimilliarden-Geschäft“ herziehen konnte, für Notleidende hätte er sein letztes Hemd geopfert.
Ich lernte Christian vor 10 Jahren bei einem Treffen von „Dignitas“ und „Dignitas Deutschland“ am Sitz der Giordano-Bruno-Stiftung kennen. Zunächst wusste ich nicht so recht, was ich von diesem etwas ruppigen Mann mit der schnoddrigen „Berliner Schnauze“ halten sollte, doch dann merkte ich schnell, dass er blitzgescheit war und sein Herz an der richtigen Stelle trug. Seinen ersten programmatischen Vortrag über das „Recht auf Letzte Hilfe“ hielt Christian im April 2013 am gbs-Stiftungssitz „Haus Weitblick“ in Oberwesel. Damals vereinbarten wir, dass ich ihn beim Schreiben eines Buches unterstützen werde. Und so erzählte mir Christian wenige Monate später in langen, intensiven Sitzungen von seinem Leben und seiner Arbeit als Arzt und Sterbehelfer. Ich studierte die Fälle, die er betreut hatte, und die Anklagen, die gegen ihn erhoben worden waren. Und wir trafen uns mit einigen seiner Patientinnen und Patienten. Schließlich war ich auch bei einer seiner Freitodbegleitungen dabei, was mich sehr berührte.
Durch die gemeinsame Arbeit an dem Buch „Letzte Hilfe: Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben„, das im Oktober 2014 – pünktlich zum Start der „Letzte Hilfe“-Kampagne „Mein Ende gehört mir“ – im Rowohlt-Verlag erschien, kam mir Christian noch einmal näher. Ich war verblüfft darüber, mit welcher Begeisterung er von alten Spielfilmen erzählen konnte, über die er sich noch immer schlapplachte, oder von bewegenden Opernaufführungen und Jazzauftritten, die seine Augen noch Jahrzehnte später zum Leuchten brachten. Christian liebte gute Bücher, gute Musik, gutes Essen und guten Wein, doch bei aller Lebensfreude, die er an den Tag legte, konnte man stets auch die enorme Belastung spüren, unter der er stand. Denn Christian hatte – als einziger Arzt in Deutschland – mehrere Hundert schwerstleidende Menschen beim Freitod begleitet und dabei Berührendes und Tröstliches, aber auch unaussprechliche Not erlebt – und dies alles ohne jegliche fachliche Begleitung! Außer mit Helga, seiner Frau, und einigen wenigen Freundinnen und Freunden konnte er mit niemandem über seine Erfahrungen als Sterbehelfer sprechen. Irgendwann wurde mir klar, dass Christian dieses Problem auf seine ganz eigene Art löste – zum Beispiel, indem er uns immer wieder anrief, um die neuesten Witze zu erzählen, die er gerade irgendwo aufgeschnappt hatte. Sein hohes, langgezogenes „Haaaahaaaa“, das auf jede Pointe folgte, werde ich nie vergessen. Es war Christians Form der Psychotherapie.
Vor allem in den Jahren 2014 und 2015 kämpfte Christian wie ein Löwe für das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende und für eine humane Sterbekultur. Er hat in dieser Zeit unzählige Interviews gegeben, Talkshows besucht, Podiumsdiskussionen bestritten und an Filmdokumentationen mitgewirkt. Hoffnung gab ihm, dass 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für eine Liberalisierung der Sterbehilfe votierten. Dass der Deutsche Bundestag entgegen diesem Bevölkerungsvotum Ende 2015 das „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ verabschiedete, das jede Form der professionellen Freitodbegleitung verbietet und schwerstleidende Menschen katastrophal im Stich lässt, hat ihn schwer getroffen.
Mit großer Ungeduld wartete Christian deshalb auf die Eröffnung des Verfahrens zu den Verfassungsbeschwerden gegen das „Sterbehilfeverhinderungsgesetz“ §217 StGB. Zur mündlichen Verhandlung am kommenden Dienstag und Mittwoch sollte er eine Stellungnahme vor dem Bundesverfassungsgericht vortragen. Doch die Krebserkrankung, unter der er schon lange litt, setzte ihm mehr und mehr zu. Er kämpfte dagegen an, aber in den letzten zwei Wochen zeichnete sich allmählich ab, dass er kaum mehr in der Lage sein würde, die Fahrt nach Karlsruhe anzutreten. Deshalb schlug ich ihm vor, die Stellungnahme schriftlich zu formulieren und durch seinen Rechtsanwalt in der Verhandlung vorlesen zu lassen. Über seinen Text für das Bundesverfassungsgericht haben wir noch am Donnerstagabend in unserem allerletzten Telefonat gesprochen. Dabei sagte mir Christian, dass die Schmerzen inzwischen trotz hoher Morphiumdosen so unerträglich geworden seien, dass es keinen Sinn mehr mache, den Tod länger hinauszuzögern. Ich wusste, was das bedeutet. Es war eines der traurigsten Gespräche, die ich je geführt habe.
Christian war für uns, den Vorstand und die Geschäftsführung der Giordano-Bruno-Stiftung, nicht nur ein wichtiger Mitstreiter, sondern ein Teil der Familie. Am Freitagmorgen rief er, wie er es versprochen hatte, noch einmal bei Herbert Steffen, dem Gründer der Giordano-Bruno-Stiftung, an, um sich zu verabschieden. Nach einem letzten „Servus“ drehte Christian die Infusion auf. Wenig später schlief er friedlich ein. Auf die Frage, ob ich noch irgendetwas für ihn tun könne, hat er mir am Donnerstag geantwortet: „Ich brauche keine Trauerfeier und kein Denkmal, aber setzt bitte fort, was ich begonnen habe!“ Das werden wir tun. Versprochen.
Ein sehr tiefgründiger und lesenswerter Artikel von Daniela Böhm finde ich.
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Es gibt keine Worte für die Endgültigkeit des Todes.
Und es gibt auch kaum Worte, das Warten auf diese Endgültigkeit zu beschreiben. Und doch möchte ich versuchen, etwas in Worte zu fassen. Als verzweifelten Hilfeaufruf für all jene namenlosen Geschöpfe an all jene, deren Herzen gegenüber ihrem unfassbar großen Leid noch nicht offen sind.
Ohnmacht.
Immer wieder Ohnmacht. Sie ist es, die mich überfällt, wenn die Transporter mit den Schweinen tief in der Nacht in den Münchner Schlachthof einfahren. Manchmal ist es totenstill wenn die Wagen einfahren, kein Laut dringt hervor, nur der Gestank angsterfüllter Ausscheidungen bleibt zurück. Aber manchmal schreien sie. Ihre Schreie gellen durch die tiefschwarze Nacht und dann weiß man, warum die Schweine im Münchner Schlachthof tief in der Nacht getötet werden. Der Schlachthof liegt mitten in der Stadt.
Der Transporter ist schnell außer Sicht, er fährt ganz weit hinten nach rechts, aber ich weiß, was jetzt passieren wird. Sie werden entladen, kommen in einen „Ruheraum“, dann die elektrische Betäubung und schließlich der „Stich“. Von diesem „Stich“ erzählt mir ein Metzger am nächsten Tag bei der 5. Mahnwache am Münchner Schlachthof. Er will wissen, was wir hier tun und meint, dass das Problem nicht die getöteten Tiere seien, sondern schlecht gelernte Metzger, die diesen Stich nicht richtig ausführen. Er steht so dicht vor mir, dass ich dauernd einen Schritt zurückgehe. Aber jedes Mal, wenn ich das tue, macht er wieder einen Schritt nach vorn. Er legt mir die Hand auf den Arm und ich zucke zurück. Diese Hand bedeutet Tod. Tausend-, hunderttausendfachen Tod. Dreißig Jahre Schlachter. Jetzt wäre sein Rücken kaputt, erklärt er mir. Ob er kein Mitleid mit den Tieren habe, frage ich ihn. Nein, meint er – wegen dem richtig ausgeführten Stich, denn damit würde ein Schwein nicht unnötig leiden. Er geht und ich bin froh darüber.
Das Mitleid wird wegrationalisert. Nicht nur bei diesem Metzger, sondern bei all jenen Menschen, die wenig oder viel Fleisch essen. Alles wird ausgeblendet. All das, was vor diesem Stich geschieht und noch weit davor. Die Lebensfreude eines Wesens, als es in diese Welt kam und seiner Natur folgen wollte. Etwas, das durch Massentierhaltung unmöglich ist und nur ein langes, qualvolles, zusammengepferchtes Warten auf den Tod bedeutet. Und selbst wenn ein Schwein artgerecht auf einem Bio-Bauernhof leben konnte – wie grausam ist es, ihm dieses Leben und seine Freude daran gewaltsam zu entreißen. Die Biotierhaltung dient vor allem dem Menschen. Um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen oder wegen des Geschmacks oder des gesundheitlichen Aspekts.Keine Antibiotika, kein genmanipuliertes Soja. Es gibt aber kein gesundes Fleisch, nur totes. Tod kann nicht gesund sein, Gesundheit hat mit Lebendigkeit zu tun. Tod ist tot.
Es dämmert schon, als ein letzter kleiner Transporter mit jungen Schweinen einfährt. Keine Schreie sind zu hören und auch in mir ist Stummheit. Vor Schmerz.
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Gegen halb sieben fahren die ersten Transporter mit den Rindern ein. Jetzt sind die Abstände noch groß, aber gegen Mittag rollt einer nach dem anderen ein. Am Freitag werden mehr Rinder als sonst geschlachtet. Es ist heiß, um die vierunddreißig Grad.
Die Transporter fahren nach links um die Ecke, am Fischrestaurant Atlantik vorbei, das gleich in der Einfahrt des Münchner Schlachthofs liegt. Ein Stück weiter dahinter ist der Entladeplatz und die Schleusen, in die sie eingetrieben werden. Lange Gänge mit Metallabtrennungen, noch im Freien, in der die Tiere auf ihren Tod warten. Kein Zurück ist mehr möglich. Manchmal versuchen sie es, aber es geht ja nicht, hinter ihnen steht der nächste Leidensgefährte und hinter dem letzten wird die Untentrinnbarkeit des Todes durch eine dicke Metalltür besiegelt. Die hilflosen Blicke dieser sanften Wesen, wenn sie dort stehen und warten müssen, haben sich tief in meine Seele eingebrannt.
Ich wage mich um die Ecke, bleibe hinter dem Restaurant stehen und schaue auf die Transporter, die in der glühenden Mittagshitze stehen. Durch die offenen Klappen sehe ich die rosa Schnauzen der Rinder und ihre weit aufgerissenen Augen. Einige unter ihnen sind über und über mit Kot besudelt, auch am Kopf. Je nach Größe des Transporters stehen sie zu zweit oder zu dritt in Abtrennungen. Ich packe meinen Mut zusammen, hole zwei große Wasserflaschen und Schälchen und gehe mit einer Freundin zu einem der Transporter. „Das bringt nichts, die werden nichts trinken“, erklärt mir der Fahrer. Er hat recht, der Versuch ist zwecklos. Todesangst nimmt jeglichen Raum ein, jedes Bedürfnis, selbst das natürlichste, geht in ihr unter.
Verzweifelte Blicke, verzweifelte Hilferufe. Das Rufen der Rinder, das auch all jene Münchner hören, die an der Mauer des Entladeplatzes vorbeigehen oder in der Nähe wohnen, erschüttert durch und durch. Es ist anders, wenn man dieses Warten auf den Tod miterlebt. Es zu beschreiben, fällt schwer. Es gibt nur Wortausdrücke dafür. Ohnmacht. Grauen. Hilflosigkeit. Trauer. Entsetzen. Schrecken. Qual. Verzweiflung. Todesangst.
Es sind hilflose, menschgemachte Wörter.
Die Rinder drücken ihre Verzweiflung durch ihre verzweifelten Rufe aus.
Ich versuche, die meine in Worte zu fassen.
Ein kärglicher Versuch.
So wie jener Versuch, einem Mitarbeiter, mit dem ich bei der vorletzten Mahnwache gesprochen habe, zu sagen, warum ich mir die wartenden Transporter ansehe.
„Warum tun Sie sich das an?“, fragt er mich. „Sie tun mir so leid“, antworte ich. Für mehr fehlen mir die Worte. „Aber dann schlafen Sie schlecht, wegen der Bilder in Ihrem Kopf.“
Er sieht mich tatsächlich besorgt an. Wie kann er schlafen? Ich will nicht stumpf werden wie die abgewetzten Messer der Metzger. Lieber habe ich die Bilder in meinem Kopf und kann nicht einschlafen.
Ich gehe wieder hinaus zu den vielen Lichtern, die seit gestern Abend für die Tiere vor den Mauern des Schlachthofs brennen.
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Foto: privat
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Alle menschlichen Kümmernisse relativieren sich an diesem Ort. Alles was mich persönlich betrübt oder worüber ich mich ärgere, wird null und nichtig im Angesicht des Todes von Lebewesen, die nichts anderes tun wollten wie wir: Leben und sich am Leben freuen.
Wer stirbt schon gerne vor seiner Zeit? Kein Mensch und auch kein Tier. Jeder gewaltsame Tod durch Menschenhand ist zutiefstes Unrecht. Fleisch bedeutet keine Lebenskraft, sondern Tod. Fleisch bedeutet Leid. Unsagbares Leid und Verzweiflung. Das ist es, was Menschen essen. Den zerstückelten Ausdruck von Qual, Angst und Tod. Fleisch ist kein „Stück Lebenskraft“ sondern ein Stück vom Tod. Jeder Bissen. Da gibt es nichts zu beschönigen oder wegzurationalisieren.
Dies ist eine verzweifelte Bitte an jeden einzelnen Menschen, der noch Fleisch isst. Für jene Wesen, die nur verzweifelt rufen können angesichts der Endgültigkeit ihres Todes. Bitte beendet dieses Leid, das tagtäglich, in jeder Sekunde auf diesem Planeten stattfindet. Es gibt so viele gute pflanzliche Alternativen und Möglichkeiten, sich zu ernähren. Der menschliche Körper braucht auch keine Milch. Die Milch ist für das Kalb gedacht. Immer wieder passiert es, dass trächtige Kühe geschlachtet werden. Was muss so eine Kuh empfinden, wenn sie in der Schleuse auf ihren Tod wartet? Was empfindet dieses kleine heranwachsende Wesen in ihrem Leib? Es gibt ein Grauen, für das es keine Worte gibt. Bitte – jeder Einzelne kann dieses unfassbare Leid beenden.
Es ist nur ein kleiner Schritt.
Er bedeutet Leben.