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Es ist gut, wenn Menschen, wenn auch oft spät Genugtuung erleben, weil ihnen im Leben großes Unrecht widerfahren ist. Egal ob als Kinder in einem Heim oder als Menschen mit schrecklichen Psychiatrie-Erfahrungen.
Hier eine Abhandlung dazu aus der SZ.
Späte Genugtuung
Eine Stiftung will Menschen, die in Psychiatrien oder Behinderteneinrichtungen Gewalt erfuhren, Gehör verschaffen. Endlich, sagen Betroffene.
Oswald Haun denkt noch oft an die Erzieherin im Internat der Würzburger Gehörlosenschule. „Sie war eine schöne Frau“, erinnert er sich. Er stand vor ihr als Bub mit seinen neun Jahren. Und dann sah er, wie sie die Faust ballte und ausholte. Augenblicklich fühlte er einen rasenden Schmerz. Das Blut rann aus seiner Nase. Auch die Lehrer in der Gehörlosenschule hätten ihn immer wieder geprügelt, eine Lehrerin und sogar der Pfarrer im Religionsunterricht, sagt er. Aber dieser eine Augenblick im Internat, der verfolgt den 63-Jährigen bis heute. Eines Tages erfuhr Haun von der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ für Menschen, die wie er als Kinder oder als Jugendliche in Heimen der Behindertenhilfe oder auch in psychiatrischen Einrichtungen Unrecht erfahren haben. Betroffene, so hieß es, könnten mit Hilfe der Stiftung auf Beratungsangebote sowie auf finanzielle Leistungen hoffen.
Oswald Haun fasste sich ein Herz, schrieb einen Brief an die Münchner Anlaufstelle der Stiftung – in der ganz eigenen Grammatik der Gebärdensprache, die sich deutlich von jener der Hörenden unterscheidet: „Wenn Lehrerin mich mit Gebärden erwischt, meistens schmale Stock auf Hand schlagen“, schrieb er da. Auch der Hausmeister habe zugeschlagen, „mit dicke Stock“. Haun bekam umgehend Antwort von der Anlauf- und Beratungsstelle, angesiedelt beim Zentrum Bayern Familie und Soziales. Noch sind es nicht viele, die sich wie er bei der Stiftung als Betroffene gemeldet haben. „Bislang haben aus ganz Bayern lediglich 77 Personen mit uns Kontakt aufgenommen“, sagt Stefan Rösler, der Leiter der Anlaufstelle. Rösler erwartet jedoch bereits in absehbarer Zeit „Wellen von Anmeldungen“.
Dafür spreche seine Erfahrung mit dem Fonds „Heimerziehung West“. Der wurde vor fünfeinhalb Jahren für ehemalige Heimkinder eingerichtet, die von 1949 bis 1975 in westdeutschen Einrichtungen der Jugendhilfe körperlich und psychisch misshandelt oder gar sexuell missbraucht worden waren. Rösler hatte 2012 den Aufbau der Bayerischen Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder übernommen. Die Fakten, die aus dieser Initiative resultieren, beeindrucken: Etwa 3000 potenziell betroffene ehemalige Heimkinder aus ganz Bayern haben sich gemeldet, und gut 2600 profitieren augenblicklich von diesem Fonds. „Mittlerweile wurden in Bayern 32,77 Millionen Euro ausgezahlt“, sagt Rösler. Von diesen Leistungen waren aber all jene ausgeschlossen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie in der Psychiatrie großes Leid erlitten hatten. Das brachte die Politik auf den Plan. Bayern spielte dabei eine tragende Rolle. Wie viel Arbeit dahintersteckte, offenbart sich in den Worten von Sozialministerin Emilia Müller (CSU): „Endlich“, so sagte sie im April dieses Jahres, gebe es eine solche Unterstützung und Hilfe auch für misshandelte Menschen mit Behinderung und für jene mit schrecklichen Psychiatrie-Erfahrungen.
Der bei Augsburg lebende Alfred Deisenhofer gehört zu jenen, die in der Psychiatrie „die Hölle auf Erden“ erlebt haben. „Das war Folter“, beschreibt der 82-Jährige die damaligen Behandlungsmethoden. Zu diesen gehörten die sogenannten Insulinschocks. Auch Deisenhofer wurde mit so hohen Insulindosen behandelt, dass er wegen extremer Unterzuckerung ins Koma fiel. Aber nicht nur das: „Im Koma habe ich auch noch Elektroschocks zur Behandlung meiner angeblichen Schizophrenie bekommen“, sagt er. Insgesamt sei er zwölf Mal auf diese Weise mit Elektroschocks behandelt worden – doch das hätten ihm die Ärzte damals verschwiegen. Erst später erfuhr er das aus Unterlagen.
Deisenhofer war 1953 als 18-Jähriger in die Psychiatrie eingewiesen worden, weil er gegen sein hochproblematisches Elternhaus rebelliert hatte. Ihm wurde damals ein schizophrener Schub diagnostiziert. „Längst aber ist es offenkundig, dass ich nicht schizophren bin“, sagt er. Doch die aus heutiger Sicht falsche und unmenschliche Behandlung habe für ihn verheerende Folgen gehabt. Die ohne seine Zustimmung verabreichten Elektroschocks hätten ihn sowohl körperlich als auch psychisch beschädigt, sagt er. So sehr, dass Alfred Deisenhofer später seinen Beruf als Lehrer vorzeitig aufgeben musste. Auch er hofft nun auf „Rehabilitation“ und „Entschädigung“ durch den neuen Fonds.
„Viele Menschen leiden heute noch unter den Folgen der damaligen Geschehnisse“, ist sich Sozialministerin Müller sicher. Es gelte nun, diese Menschen zu ermutigen, die Angebote der Stiftung in Anspruch zu nehmen. Stefan Rösler setzt darauf, dass sich an dieser Aufgabe auch die großen Einrichtungen beteiligen – und das sowohl von Seiten der Behindertenhilfe als auch von Seiten der Psychiatrie. „Die größte Herausforderung für uns ist, dass wir es schaffen, auch das Schicksal von geistig Behinderten zu dokumentieren“, sagt Rösler. Auch sie haben Unrecht erlitten, können dies aber oft nicht kommunizieren. „Aber da wissen vielleicht andere etwas über deren Schicksal, vielleicht gibt es Zeugen, womöglich auch wissenschaftliche Erkenntnisse über die Einrichtung“, hofft Rösler. Schon allein deshalb sei es jetzt essenziell, dass große Einrichtungen aktiv werden – dass sie die Betroffenen ansprechen und unterstützen.
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