Am Beispiel der Beschneidungen sieht man zu welchen Verletzungen von körperlicher Unversehrtheit es kommt, weil Religioten diese im Windschatten von Religion begründen meinen zu können. Wenn eine Diskussion komplex wird, dann wird auf die Behauptung zurückgegriffen: Gott will es. Aber es ist immer nur das was Menschen wollen.

„An jenem Punkt, an dem rationale Erklärungen ein zu hohes Maß an kognitiver Anstrengung und Aufmerksamkeit erfordern, kann getrost auf den allmächtigen Schöpfer des Universums abgestellt werden – Gottes Wege sind unergründlich. Selbst sprachlich einigermaßen gewandte und gut gebildete Religionsvertreter wie der Berliner Rabbi Ytshak Ehrenberg ertragen rationale Diskurse nicht besonders lange bevor sie auf solch simple Mechanismen abstellen.“

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„Je mehr die Religionen gezwungen werden von ihren abstrusen Grundlagen Abstand zu nehmen und sich für Säkularisierungsprozesse zu öffnen, desto mehr wird ihnen ihr eigenes Fundament und ihre eigene Notwendigkeit entzogen.“

Religiöser Wahn und liberale Feigheit

 

Unsere Zivilisation wird von einer „Armee des Abstrusen“ belagert. Verfolgt man die aktuell noch immer lodernde Debatte um religiöse Beschneidungen, so wird auf einen Schlag deutlich, dass diese Einschätzung des Philosophen und Neurowissenschaftlers Sam Harris heute mehr denn je gilt.

Religiöser Wahn ist längst nicht nur ein Problem afghanischer Taliban, ultra-orthodoxer Juden oder amerikanischer Evangelikaler. Religiöser Wahn ist ein alltägliches Phänomen, beobachtbar selbst in den säkularsten Staaten dieser Erde.

Dabei scheint die Abschlussformel „Gott“ noch immer eine funktionale Notwendigkeit zu besitzen, die den Menschen unter den Bedingungen einer immer mehr von Komplexität und Kontingenz angereicherten Gesellschaft die Möglichkeit eröffnet, Luft zu holen und eine Art erleichternde Stop-Regel einzubauen. An jenem Punkt, an dem rationale Erklärungen ein zu hohes Maß an kognitiver Anstrengung und Aufmerksamkeit erfordern, kann getrost auf den allmächtigen Schöpfer des Universums abgestellt werden – Gottes Wege sind unergründlich. Selbst sprachlich einigermaßen gewandte und gut gebildete Religionsvertreter wie der Berliner Rabbi Ytshak Ehrenberg ertragen rationale Diskurse nicht besonders lange bevor sie auf solch simple Mechanismen abstellen. Als vor kurzem innerhalb einer höchst emotionalisierten Fernsehdebatte rationale Gründe für die im Judentum übliche frühkindliche Beschneidung – nicht für die Beschneidung an sich, denn da liessen sich als bewusste Entscheidung erwachsener Menschen ja vielleicht noch rationale medizinische Argumente finden – eingefordert wurden, kam nach kurzer Überlegung nur ein achselzuckendes „Ja nun. Das kommt von Gott!“. Wie soll man innerhalb einer aufgeklärten liberalen Wissensgesellschaft mit solchen Positionen umgehen?

Wie könnte man sie als etwas anderes als infantilen Trotz abergläubiger Dummköpfe bezeichnen?

Trotz der voranschreitenden religiösen Idiotie hält sich der Protest in Grenzen.

Nicht umsonst weigert sich noch immer knapp die Hälfte der amerikanischen Christenheit das ebenso simple wie geniale darwinsche Konzept der Evolution anzuerkennen und baut lieber auf die überaus plausible Erklärung eines allmächtigen Schöpfers, der vor rund 6.000 jahren innerhalb von sechs Tagen alle auf der Erde lebenden Kreaturen in exakt dem heutigen Zustand aus dem Nichts erschaffen hat. In einigen Schulen des mittleren Westens müssen inzwischen Kreationismus und Evolutionstheorie gleichberechtigt vermittelt werden.

Keine weiteren Fragen erlaubt. Anhand der amerikanischen Entwicklung ist die Wiederkehr der Religion besonders anschaulich und erschütternd dokumentiert. Waren die Gründerväter noch entschiedene Gegner der Religion und teilweise sogar überzeugte Atheisten, so wurde die prinzipielle Religionsfreiheit von fanatischen Christen innerhalb der letzten hundert Jahre Schritt für Schritt weiter ausgenutzt bis es schließlich zu einer Umkehrung der eigentlichen Intention dieser Freiheit zur Religionsausübung kam.

Für den einzelnen Menschen mag die religiöse Form der Komplexitätsreduktion zunächst mentale Erleichterung bringen, gesamtgesellschaftlich sind die Folgen einer von religiösem Wahn durchzogenen Kommunikation jedoch fatal. Nicht nur, dass die selbsternannten „Religionsvertreter“ sich in Positionen versetzen, die ihnen vor allem erlauben ihren eigenen weltlichen Bedürfnissen und Perversionen ungestraft nachzugehen – im Iran wurde unter religiösen Argumenten vor kurzem das heiratsfähige Alter von Mädchen auf neun Jahre gesenkt, kurz danach starb eine neunjährige „Braut“ nach dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem fünfzigjährigen „Ehemann“ an inneren Blutungen – auch und besonders die religiösen Eltern strahlen eine Gefahr für ihre Kinder aus. Der Evolutionsbiologie Richard Dawkins brachte es auf den Punkt als er anführte, dass „jede Form der religiösen Erziehung schon eine Form des Kindesmissbrauchs” darstelle. Und dabei bezog er sich vor allem auf den mentalen Missbrauch der zwangsweisen Vermittlung einer auf Angst, Schuld, Lügen und Strafe basierten Ideologie. Die Verstümmelung von Geschlechtsorganen stellt wohl noch eine völlig andere Dimension dar. Denn auch hier würde die bewusste Entscheidung erwachsener Männer sich einen Teil ihrer Vorhaut abzuschneiden kaum Protest hervorrufen. Doch die Auswirkungen der im Namen der Kinder gefällten elterlichen Entscheidungen über Geist, Leib und Leben verursachen in der Regel nicht-revidierbare negative Folgen für die weitere mentale und körperliche Entwicklung des Kindes. Und dabei muss es noch als der „beste” Fall bezeichnet werden, wenn die Kinder „lediglich” der gleichen religiösen Idiotie anheimfallen, die ihnen ihre Eltern vorlebten.

Doch zur wirklichen Gefahr wird dieser religiöse Wahn durch den zweiten zentralen Faktor unserer Gegenwart: liberale Feigheit. Denn das paradoxe Konstrukt der „Religionsfreiheit“ lasst den Blüten des Wahnsinns erst freien Lauf.

Der von Stanley Fish als „boutique multiculturalism” bezeichnete Mechanismus der romantisierenden liberalen Begeisterung für einige Aspekte kulturell-religiöser Auswüchse darf nicht dazu führen, dass anderen, rechtswidrigen, menschenverachtenden und freiheitsbedrohende Praktiken freie Hand gewährt wird. Selbstverständlich sollte es jedem Menschen freistehen, seinen eigenen religiösen Glauben zu besitzen. Doch sollte es jedem seiner Mitmenschen ebenso erlaubt sein, diesen Glauben als das zu bezeichnen was er ist: Ein Armutszeugnis seiner eigenen kognitiven Leistungsfähigkeit und ein Bekenntnis zum infantilen Aberglauben. Gegenüber der Justiz hätte man wohl vollkommen zu Recht wenig Argumente, wenn man behaupten würde, das fliegende Spaghettimonster hätte unter Androhung ewiger Schmerzen befohlen, den eigenen Kindern die Fingerkuppen abzuschneiden und nur noch Lakritze zu essen. Ein längerer Aufenthalt in einem Heim zur mentalen Genesung wäre wohl gesichert. Und doch werden in Deutschland Positionen ernstgenommen, die auf exakt der gleichen Ebene argumentieren. Der nationale Ethikrat sprach sich nun dafür aus, Beschneidungen rechtlich wieder zu ermöglichen, nachdem das Landgericht Köln zuvor ein richtiges und wichtiges Urteil zur Eindämmung des religiösen Wahnsinns fällte.

Die liberale Feigheit gegenüber den religiösen Schreihälsen ermöglicht wiederum die Fortsetzung der als „kulturell“ getarnten religiösen Idiotie. Dabei ist die angeschobene Debatte zumindest ein gutes Zeichen. Die prinzipielle Debatte um die schädlichen Auswucherungen der Religion gehört in die Öffentlichkeit. Ähnlich wie bei anderen menschenverachtenden fundamentalistischen Ideologien müssen die Argumente der religiösen Fanatiker ins Licht gezogen und bearbeitet werden. Und auch wenn die Zugänglichkeit religiöser Menschen zu rationalen Argumenten bezweifelt werden darf (bestünde eine prinzipielle Zugänglichkeit wären sie wohl kaum noch religiös), so muss es doch ein stetiger Prozess der rationalen Bearbeitung religiöser Kernannahmen aufrechterhalten werden. Je mehr die Religionen gezwungen werden von ihren abstrusen Grundlagen Abstand zu nehmen und sich für Säkularisierungsprozesse zu öffnen, desto mehr wird ihnen ihr eigenes Fundament und ihre eigene Notwendigkeit entzogen.

Dieser Prozess muss weiter aktiv vorangetrieben werden, bevor es einer auf Aberglauben und Unwissenheit basierenden Kultur gelungen ist, sich – mit den paradoxerweise von der glaubensfreien Wissenschaft produzierten Waffen – auszulöschen. Wiederum Sam Harris: „Die Gefahr des religiösen Glaubens besteht darin, dass er sonst völlig normalen Menschen erlaubt, Früchte des Wahnsinns zu ernten und diese als heilig zu betrachten“. Der Beitrag der liberalen Feigheit, die diesem Wahnsinn nicht entschlossen genug entgegentritt, mindert diese Gefahr momentan nicht gerade.

http://alltagsbeobachtungen.wordpress.com/2012/08/26/religioser-wahn-und-liberale-feigheit/

 

Gruß Hubert