Manche Leute beeindruckt die schnelle Vollendung des Flughafens von Istanbul, mit dem sich Erdogan ein Denkmal setzen will. Er will nach viereinhalb Jahren Bauzeit den Flughafen eröffnen. Man muss aber sehen wie dieses Ziel erreicht wird. Hunderte Arbeiter haben schon wegen mangelhafter Sicherheitsmaßnahmen ihr Leben verloren. Kadir Kurt, ein Gewerkschafter, sagt, dass die Zahl von 1.000 Toten seit Baubeginn im Juni 2014 eine optimistische Schätzung wäre.
Aus der Frankfurter Rundschau.
Irrsinn von Istanbul
Im Norden Istanbuls entsteht der größte Flughafen der Welt. Die gigantische Baustelle gilt als „Sklaven- und Todeslager“, im ambitionierten Zeitplan sind Arbeitsschutz und Menschenwürde nicht vorgesehen.
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Aufgelöst: Polizisten führen einen Mann ab, der am vorigen Samstag an einer Demonstration gegen die Zustände auf der Flughafenbaustelle teilgenommen hatte.Foto: afp
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Die größte Baustelle, die es in der Türkei je gab, gleicht seit Kurzem einem Arbeitslager in einem totalitären Staat. Auf dem gesamten Baugelände und in den Arbeiterquartieren sind Soldaten der Gendarmerie und Aufstandspolizisten mit Panzerfahrzeugen aufgezogen. Sie kontrollieren seitdem das Heer Tausender Beschäftigter auf dem neuen Istanbuler Flughafens nördlich der Metropole am Schwarzen Meer.Das ist die Reaktion des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan auf eine beispiellose Arbeiterrebellion bei seinem ambitioniertesten Prestigeprojekt.
Am Freitagnachmittag haben sich fast 3000 Arbeiter in gelben Regenmänteln vor der stählernen Umzäunung um die Flughafenbaustelle versammelt. Sie rufen „Bauarbeiter sind keine Sklaven“ und „Mörder IGA“. Ohne Vorwarnung feuern die Gendarmen Tränengas und Gummigeschosse in die Menge, während Wachmänner der Flughafenbaugesellschaft IGA versuchen, die Demonstranten am Filmen mit ihren Handys zu hindern.
Am Samstagmorgen um halb drei umstellen Hunderte Gendarmen das fünf Kilometer entfernte Camp der Bauarbeiter beim Dorf Akpinar, in dem 15.000 der insgesamt 36 000 Beschäftigten untergebracht sind. Sie brechen die Unterkünfte auf, nehmen 561 Männer fest. Dazu gehört auch der Generalsekretär der kleinen linken Bauarbeitergewerkschaft Insaat-Is, Yunus Özgür, der die Mega-Baustelle gegenüber regierungskritischen Medien als „Sklaven- und Todeslager“ mit lebensgefährlichen Zuständen bezeichnet hatte.
Erdogans Flughafen fordert fast täglich Menschenleben
Der wilde Streik hatte begonnen, nachdem ein Servicebus, der Arbeiter vom Camp zur Baustelle transportierte, verunglückt war. 17 Beschäftigte wurden teils schwer verletzt. Bei einem ähnlichen Unglück starben vor zwei Wochen acht Arbeiter, wie Augenzeugen sagen. Am Sonnabend fielen zwei Männer von einem Baugerüst. Einer der beiden liegt auf der Intensivstation. Am Sonntag forderte ein umkippender Kran ein weiteres Todesopfer. Die regierungskritische Zeitung Evrensel zitierte einen Arbeiter mit den Worten: „Es gibt jeden Tag eine Beerdigung. Das wissen wir.“
Zu diesem Zeitpunkt schlossen sich immer mehr Arbeiter dem Streik an, während die Regierung in Ankara versuchte, die Berichterstattung darüber weitgehend zu unterbinden. Der mit diktatorischen Vollmachten regierende Staatschef Erdogan kann Streiks überhaupt nicht gebrauchen.
Denn der reguläre Flugbetrieb soll unbedingt zum 95. Geburtstag der Republik am 29. Oktober aufgenommen werden, wenn Erdogan den ersten Teil des Airports nach einer Rekordbauzeit von nur viereinhalb Jahren eröffnen will. Dann soll er den weiter südlich gelegenen Atatürk-Flughafen ersetzen, der zu klein geworden ist.
Mit einer Fläche von fast acht Quadratkilometern wird der neue, noch namenlose Airport drei Mal so groß sein wie der Frankfurter Flughafen. Mit anfangs 90 Millionen und später bis zu 200 Millionen Passagieren im Jahr soll er einmal das größte Luftdrehkreuz der Welt werden.
Am Beispiel der Türkei sieht man wie wichtig und wertvoll Güter wie Demokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaat sind. Es gibt Leute in Deutschland, die klagen, dass dort so schrecklich zensuriert würde. Sie würden sich wundern wie schnell sie in der Türkei hinter Gittern wären, wenn sie dieselbe Kritik dort schreiben würden. In der Türkei gibt es schnell mal lebenslänglich, wenn man ein Gegner von Erdogan ist. Selbstverständlich mit dem stets und schon langweilig klingenden Vorwurf des Terrorismus oder des Geheimnisverrats. Einige Journalisten haben sich ja früh genug nach Deutschland abgesetzt um nicht in Gefängnis zu landen. Jetzt kauft Erdogan auch noch eine ihm nahe stehende Gruppe auf – nachdem er ja sowieso jedes Fünkchen Kritik im Keim erstickt. Die Türkei ist für Kritiker heute ein Land wo man nicht mehr atmen kann. Es wäre ein Grausen für jemand der Demokratie und Pressefreiheit gewohnt ist in der Türkei zu leben. Aber die Türkei ist nicht das einzige Land wo es solche grausigen Zustände gibt. Die Gleichschaltung und die Ausschaltung der kritischen, unabhängigen Presse ist ein Merkmal von Diktaturen.
Aus tagesschau.de
In der Türkei sollen Medien der Dogan-Gruppe, zu der unter anderem der Sender CNN Türk gehört, an einen Erdogan-nahen Konzern übergehen. Kritiker befürchten eine weitere Einschränkung der Pressefreiheit.
Dem türkischen Medienmarkt steht wohl eine bisher nie dagewesene Konzentration bevor: Die Mediensparte der größten Mediengruppe des Landes, Dogan, soll an die regierungsnahe Demirören-Gruppe verkauft werden. Der Dogan-Konzern bestätigte nach diversen Medienberichten die Verhandlungen.
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Die Tageszeitung „Hürriyet“ gilt als halbwegs unabhängig. Doch nun soll auch sie an die regierungsnahe Demirören-Gruppe verkauft werden.
Es gehe um die Übernahme der Zeitung „Hürriyet“ und des Nachrichtensenders CNN Türk, heißt es in einer Dogan-Erklärung an die Istanbuler Börse. Das Paket hat den Angaben nach einen Börsenwert von rund 725 Millionen Euro. Beide Medien galten in der Türkei bislang als halbwegs unabhängig.
Die Demirören-Gruppe ist vor allem in den Bereichen Bau, Energie, Automobil, Tourismus und Bildung tätig. Ihr wird eine Nähe zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nachgesagt. Demirören hatte bereits 2011 die Zeitungen „Milliyet“ und „Vatan“ übernommen. Beide Blätter schwenkten daraufhin auf einen regierungsfreundlichen Kurs um. Kritiker befürchten durch die erneute Konzentration auf dem türkischen Medienmarkt weitere Einschränkungen bei Meinungsvielfalt und Pressefreiheit.
Nach dem Putschversuch 2016 waren per Notstandsdekret rund 150 Medienbetriebe geschlossen worden. Die regierungskritische „Cumhuriyet“ schreibt: „Der einzige große Medienmogul des Landes ist nun die Regierung.“
Springer will sich von Dogan TV zurückziehen
Nach Bekanntwerden der Übernahmepläne kündigte der deutsche Springer-Konzern an, sich aus dem türkischen Medienunternehmen komplett zurückzuziehen. Springer sei seit Januar 2007 als Investor an der Dogan TV Holding A.S. beteiligt und habe diese Beteiligung in den vergangenen Jahren sukzessive zurückgefahren. „Das Unternehmen hält derzeit noch sieben Prozent an der Dogan TV Holding, es gibt aber die klare Absicht und auch entsprechende Vereinbarungen, sich komplett zurückzuziehen.“ Näher äußerte sich Springer nicht.
Mit Informationen von Christian Buttkereit, ARD-Studio Istanbul
Der luxemburgische Außenminister Asselborn getraut sich und gebraucht klare Worte gegen den Despoten Erdogan. Als Gegenbeispiel kann Merkel dienen, die sich wegen der Flüchtlinge von Erdogan erpressen lässt.
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„Das sind Nazi-Methoden“
Erdogan verwende Methoden wie „während der Naziherrschaft“ – mit diesen Worten hat Luxemburgs Außenminister Asselborn den türkischen Präsidenten scharf angegriffen. Zugleich brachte er Wirtschaftssanktionen ins Spiel: Schließlich gingen 50 Prozent der Exporte aus der Türkei in die EU.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat Sanktionen gegen die Türkei ins Spiel gebracht. 50 Prozent der Exporte der Türkei gingen in die Europäische Union und 60 Prozent der Investitionen in der Türkei kämen aus der Europäischen Union, sagte Asselborn im Deutschlandfunk. „Das ist ein absolutes Druckmittel, und in einem gewissen Moment kommen wir auch nicht daran vorbei, dieses Druckmittel einzusetzen.“
Asselborn greift Erdogan scharf an
Asselborn kritisierte das Vorgehen von Präsident Recep Tayyip Erdogan scharf. Kurden und Türken könnten jederzeit im Gefängnis landen. Das sei unwürdig für ein Land, das EU-Mitglied werden wolle. Die Namen aller aus der Haft Entlassenen würden im Amtsblatt publiziert.Diese Menschen hätten keine Chance mehr, eine neue Stelle zu finden. Ihre Diplome und ihre Pässe würden zerstört. Die Menschen hätten kein Einkommen mehr, verlören ihre Wohnung und würden Hunger leiden. „Das sind Methoden, das muss man unverblümt sagen, die während der Naziherrschaft benutzt wurden“, sagte Asselborn.Erdogan hatte sich zuletzt am Sonntag Kritik an seinem Vorgehen gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP verbeten.
Asselborn ist bekannt als Freund deutlicher Worte. Zuletzt hatte er für Aufsehen gesorgt, als er einen Ausschluss Ungarns aus der EU forderte, weil das Land „Flüchtlinge fast schlimmer als Tiere“ behandele.
Kurz für Abbruch der Beitrittsgespräche
Österreichs AußenministerSebastian Kurzforderte einen Abbruch jeglicher EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei. „Ein Land, das versucht, Journalisten und Oppositionsführer einzusperren, hat in der Europäischen Union keinen Platz“, sagte der Politiker der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) im Ö1-Radio. „Für mich ist die rote Linie längst überschritten.“ In der Flüchtlingspolitik spiele das Land eine unberechenbare Rolle. „Wenn man sich auf diese Türkei verlässt, ist man verlassen.“ Die EU dürfe sich auf keinen Fall mit der Drohung der Aufkündigung des Flüchtlingspakts erpressen lassen, sondern müsse den Schutz der Außengrenzen selbst besser organisieren.
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Gut wenn Kurz ausspricht was die meisten denken. Wenn ein Land so autokratisch und nicht einem Rechtsstaat entsprechend geführt wird, hat es in der EU nichts zu suchen.
Kurz: „Wird keinen EU-Beitritt der Türkei geben“
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Es brauche flexiblere Modelle der Zusammenarbeit mit anderen Staaten, sagt Kurz. / Bild: APA/HERBERT PFARRHOFER
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Es gebe hier eine große Differenz zwischen dem, was die meisten Regierungschefs dachten und was sie öffentlich sagten, meint der Außenminister.
Außenminister Sebastian Kurz schließt eine EU-Mitgliedschaft der Türkei aus. Das berichtet die deutsche Tageszeitung „Die Welt“ in ihrer Mittwochausgabe. „Ich bin mir sicher, es wird keinen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geben“, sagte der ÖVP-Politiker der „Welt“. Diese Meinung, so der ÖVP-Politiker, vertrete er nicht alleine, sondern auch zahlreiche Regierungschefs und Außenminister.
„Sie sagen, dass die Beitrittsverhandlungen zwar weiter geführt werden müssen, aber am Ende des Tages es keinen Beitritt geben wird. In dieser Frage gibt es eine große Differenz zwischen dem, was die meisten Politiker in Europa denken, und dem, was sie öffentlich verlautbaren“. Kurz forderte stattdessen einen ehrlichen Umgang miteinander. „Das sind wir auch unseren Bürgern, die in vielen Ländern einen Beitritt der Türkei seit Jahren klar ablehnen, und der Türkei schuldig“.
Kurz forderte eine „maßgeschneiderte Partnerschaft“
Gleichzeitig bekräftigte Kurz seine Forderung nach einer „guten Gesprächsbasis“ und einer engen Zusammenarbeit mit Ankara. „Aber es kann aus meiner Sicht nicht das Ziel sein, dass die Türkei der EU als volles Mitglied beitritt“. Notwendig sei vielmehr eine „maßgeschneiderte Partnerschaft“. Kurz: „Wir müssen in der EU flexibler werden, was unsere Zusammenarbeit mit anderen Staaten betrifft“.
Derzeit gebe es nur das sogenannte Assoziierungsabkommen und die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union. „Und wir erleben sowohl bei der Türkei als auch im Osten der EU, dass man künftig flexiblere Modelle der Partnerschaft benötigt. Im Fall der Türkei eine Zusammenarbeit ohne Vollmitgliedschaft“, erklärte Kurz. Zudem sollte einigen Staaten in der östlichen Nachbarschaft der EU ermöglicht werden, „mit uns enger zu kooperieren, ohne dass diese Staaten gleichzeitig gezwungen sind, die Kooperation mit Russland aufzugeben“.
Es unglaublich wie die Bundeskanzlerin auf leisen Sohlen und Süßholz raspelnd gegenüber dem Terrorpaten und nun klaren Diktator Erdogan auftritt. Die türkischstämmige, kurdischer Herkunft, Sevim Dagdelen von DIE LINKE redet hier Klartext.
Nach der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linksfraktion ist klar: Die Terroristen sitzen in Ankara. Aber zugleich wird deutlich: Die Terrorhelfer sind in Berlin zu Hause. Jahrelang war Erdogan der Premiumpartner der Bundeskanzlerin. Was tat sie nicht alles, um seine Gunst nicht zu verlieren: ein Besuch Merkels kurz vor den Wahlen in Istanbul mit dem Nebeneffekt der Aufwertung Erdogans, die Vorverurteilung des Satirikers Jan Böhmermann in einem Telefonat mit dem Terrorpaten und die Ermächtigung, nach Paragraph 103 Böhmermann wegen der Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts gesondert zu verfolgen. Dabei wusste die Bundesregierung, dass Erdogan der Chef der »Aktionsplattform« für Islamismus und islamistischen Terrorismus im Nahen und Mittleren Osten war, so zumindest die Erkenntnisse ihres Auslandsgeheimdienstes BND.
Und in der Tat, neu ist das alles nicht. Neu ist daran allein, dass die Bundesregierung dies in einem Papier zusammenstellt, die die Öffentlichkeit nie erreichen sollte. Nach außen verbot sie sich eine Antwort mit Hinweis auf das deutsche »Staatswohl«. Nach innen aber redete man vertraulich Klartext. Denn man wusste selbstverständlich, dass Erdogan die Grenze für den Nachschub nach Syrien zum »Islamischen Staat« offenhielt, damit der Nachschub für die barbarischen Terrorbanden weiter fließen konnte – auch um Jesiden und Kurden zu massakrieren. Informationen über Waffenlieferungen Erdogans an die Seite an Seite mit Al-Qaida operierende Terrortruppe Ahrar Al-Scham lagen der Bundesregierung vor. All die Jahre hatte man zuliebe der privilegierten Partnerschaft mit Erdogan geschwiegen, und man wollte eigentlich auch weiter schweigen.
Und war auf einem guten Weg, wieder einmal die Verbrechen Erdogans zu relativieren. In Talkshows wie »Hart aber fair« konnten Erdogan-Fans vor einem Millionenpublikum fast widerspruchlos ihre Schönrederei verbreiten. Was Erdogan mache, sei nicht anders als das Vorgehen der BRD gegen die RAF, lautet eines der Stücke aus dem Instrumentenkasten der Propagandaabteilung Ankaras. Damit sollten die mehr als 80.000 Entlassenen, die 130.000 Verhafteten, die Verschwundenen, die Gefolterten vergessen werden. Damit sollten der Krieg gegen die Kurden und die furchtbaren Verbrechen türkischer Sicherheitskräfte verharmlost werden. Hinter dieser Nebelwand sollten die Verhaftungen von Journalisten ebenso wie die Prozesse gegen Oppositionspolitiker wie Selahattin Demirtas unsichtbar werden. Keiner, so das Kalkül der Erdogan-Strategen, würde nachfragen, ob das Verbot der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem wirklich irgend etwas mit dem Putschversuch zu tun hatte. Seit der Veröffentlichung der Geheimpapiere der Bundesregierung aber geht dies Kalkül nicht mehr auf. Erdogan ist ihr Terrorpate. Es gilt, alles dafür zu tun, dass dies nicht so bleibt.
Welche Rolle spielt die Türkei, wenn Sie an eine friedliche Lösung für Syrien denken oder an den Kampf gegen den Islamischen Staat?
Das Problem ist, dass die Türkei weiterhin den Nachschub für den IS über die Grenze passieren lässt. Islamistische Terrormilizen, wie der jetzt umbenannte Al-Kaida-Ableger, die Al-Nusra-Front und Ahrar al Sham werden von Erdogan weiter massiv mit Waffen beliefert. Sie sind für die Ermordung hunderter Zivilisten verantwortlich und kämpfen für eine islamistische Diktatur in Syrien. Erdogan setzt hier weiter auf Krieg, auch gegen die Kurden in Syrien. Er ist damit nicht nur eine Gefahr für die Sicherheit in der Region, sondern auch in Europa.
Sprechen wir über den gescheiterten Putsch in der Türkei und seine Folgen. Das Regime geht hart vor. Richter werden entlassen, Zehntausende wurde Beamte gefeuert, Akademiker dürfen nicht ausreisen, Haftbefehle gegen Journalisten, Zeitungen, Fernsehstationen, Radiosender geschlossen – alle, denen eine Nähe zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird. AKP-Politiker wie Mustafa Yeneroğlu verteidigen die Maßnahmen, die Türkei brauche nun „Normalität“. „Jeder andere Staat in Europa würde genauso handeln“, sagt er. Welches Ziel verfolgt Erdogan?
Gerade, dass man nur wenige Stunden nach dem Putschversuch mit der Verhaftung von über 60000 Menschen aus dem Staatsapparat begonnen hat, spricht dafür, dass hier lange vorbereitete Listen, die für einen eigenen Staatsputsch angelegt wurden, regelrecht abgearbeitet werden. Erdogan will die Diktatur. Jeder der nicht 150 Prozent für ihn ist, gilt ihm als Feind und diese Feinde will er jetzt ein für allemal beseitigen. Bildungseinrichtungen, Gewerkschaften und Medien werden in diesem Sinne gleichgeschaltet. Ich habe Freunde in der Türkei, die weder etwas mit den Putschisten noch mit der Gülen-Bewegung zu tun haben, die jetzt von der Polizei abgeholt worden sind.
Können Sie uns den Konflikt zwischen dem Prediger Fetullah Gülen und Präsident Erdogan erklären?
Ja, es ist der Konflikt zwischen zwei feindlichen Brüdern. Bis 2013 waren Erdogan und Gülen ja ein Herz und eine Seele. Beide repräsentieren aber auch unterschiedliche islamistische Strömungen. Erdogan steht für die Muslimbrüder, Gülen für eine Geheimsekte, die sich auf den Sufismus beruft, eine asketisch-mystische Richtung im Islam. Beides sind Exponenten der politischen radikalen Rechten. Nach dem Putsch von Al-Sisi in Ägypten gegen eine immer autoritärere Herrschaft der Muslimbrüder, bei dem im Vorfeld auch Massendemonstrationen eine Rolle spielten, bei denen stark die 10 Millionen Sufi-Anhänger mobilisiert wurden, gab es offenbar bei Erdogan ein wachsendes Misstrauen, dass es ein ähnliches Szenario in der Türkei geben könnte. Gülen wolle sich zudem weiterhin an den Westen anlehnen. Für Erdogan war die Zeit gekommen, die Westbindung etwas zu lockern, um seinem eigentlichen Ziel, einen islamistischen Staat zu schaffen, näher zu kommen.
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Der innertürkische Konflikt strahlt inzwischen bis nach Deutschland aus. Es gab eine Erdogan-Demo in Köln vor gut einer Woche, aber auch Gegendemonstrationen. Wie gespalten ist die türkische Gemeinde in Deutschland?
Bereits bei den Wahlen für die türkische Nationalversammlung konnte Erdogan in Deutschland bis zu 60 Prozent der Stimmen der Türkinnen und Türken in Deutschland für sich verbuchen. Jetzt unterstützen ihn auch noch die faschistischen Grauen Wölfe. Kritiker Erdogans dagegen werden bedroht, beschimpft und beleidigt. Das Ganze hat System. Ich habe bisher nicht den Eindruck, als würde dies von der Bundesregierung als Problem wahrgenommen. Wir haben es mit einer rechtspopulistischen islamistischen Bewegung zu tun, die von Faschisten mit unterstützt wird und über starke Propagandamittel verfügt.
Wie weit reicht der Einfluss des Erdogan-Regimes nach Deutschland und muss darauf innenpolitisch reagiert werden?
Über die Moscheevereine und ihrem Dachverband der DITIB, die von Erdogan ganz stark beeinflusst werden über die Entsendung von staatlichen Imamen aus der Türkei nach Deutschland und den direkten Einfluss von türkischen Staatsbeamten auf die Freitagspredigten in Deutschland, hat Erdogan hier seine Anhänger voll mobilisiert. Mit Religionsfreiheit hat das nichts zu tun. Da er zudem fast alle türkischsprachigen Medien kontrolliert, sind die Menschen mit Migrationshintergrund Türkei auch hier eine Dauerpropaganda ausgesetzt. Gegen Säkulare, Kurden und Aleviten wird gehetzt, Gülen-Anhänger direkt bedroht. Die Bundesregierung hat leider diese Situation durch ihr Hofieren von AKP-nahen Vereinen in Deutschland mit heraufbeschworen. Hier muss dringend umgesteuert werden, will man Erdogans Einfluss in Deutschland nicht weiter erhöhen.
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Aus hna.de
Von der Linke-Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen stammte die brisante Türkei-Anfrage, welche die Bundesregierung in erhebliche Schwierigkeiten gebracht hat.
In ihrer vertraulichen Antwort legt die Regierung Erkenntnisse über die Verstrickungen der türkischen Regierung mit Islamisten offen. Es müsse nun eine radikale Wende in der Türkeipolitik geben, fordert Dagdelen.
[…]
Was sagt der Umstand aus, dass das Außenministerium bei der Einschätzung der Regierung nicht involviert war?
Dagdelen: Ob das jetzt eine Panne oder Kalkül gewesen ist, ist nicht entscheidend. Entscheidend sind die Informationen, die im Raum stehen. Bemerkenswert sind die Nebelkerzen der SPD, die fordert, es müssten nun Beweise vorgelegt werden. Die Partei muss endlich von ihrer bedingungslosen Solidarität mit Erdogan abkommen.
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Zur Person
Sevim Dagdelen (40) sitzt seit 2005 für die Linke im Bundestag. Geboren in Duisburg, studierte die Tochter türkischer Einwanderer kurdischer Herkunft Jura in Marburg, Adelaide (Australien) und Köln, schloss das Studium aber nicht ab. Sie arbeitete als Journalistin und Übersetzerin.
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Ich kann da dem Bundeskanzler Kern und Außenminister Kern nur recht geben. Man muss diesen rotzfrechen Türken Paroli bieten. Man kann sich von den Türken wegen der Flüchtlinge nicht erpressen lassen.
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Österreichs Außenminister Sebastian Kurz: „Wenn wir noch zu unseren Grundwerten stehen, können wir nur eine klare Meinung haben.“(Foto: AP)
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„Kartenhaus wird zusammenbrechen“Wien sieht Flüchtlingsdeal vor dem Aus
Die österreichische Regierung fordert, dass die EU ihre Beitrittsgespräche mit der Türkei stoppt. Für Außenminister Kurz hat auch das Flüchtlingsabkommen keine Zukunft mehr. In Berlin sieht man das anders. CDU-Vize Strobl nennt jedoch eine rote Linie.
Nach dem von Österreich geforderten Stopp der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei stünde aus Sicht von Außenminister Sebastian Kurz auch der Flüchtlingsdeal mit Ankara vor dem Aus. „Das Kartenhaus der falschen Flüchtlingspolitik wird zusammenbrechen“, sagte der Politiker der konservativen österreichischen Volkspartei (ÖVP) im ORF-Fernsehen. Trotzdem gebe es aufgrund der dramatischen Ereignisse der letzten Zeit in der Türkei keine Alternative zu einem Stopp der Gespräche. Die EU müsse die Außengrenzen selbst schützen, um nicht mehr erpressbar zu sein.
Ein wesentlicher Punkt sei dabei, dass Flüchtlinge bereits an der Außengrenze gestoppt würden und „die Rettung aus dem Mittelmeer nicht mehr mit einem Ticket nach Mitteleuropa verbunden ist“, sagte er dem „Focus“. „Vor der libyschen Küste wäre es definitiv sinnvoll, wenn Schlepperboote beim Ablegen gehindert würden“, lautet ein Vorschlag von Kurz. Zudem sagte er: „Wer illegal nach Europa reist, muss auf Inseln an der Außengrenze versorgt und dann in Zentren sicherer Drittstaaten zurückgeschickt, nicht weiter nach Mitteleuropa gewunken werden.“ Er sprach sich außerdem für ein Umsiedlungsprogramm aus, um „Flüchtlinge in einem zahlenmäßig zu bewältigenden Ausmaß“ legal in die EU zu bringen.
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Spannungen zwischen Wien und Ankara
Nach dem verbalen Schlagabtausch mit Ankara ist die Beziehung zwischen Österreich und der Türkei belastet. „Das Verhältnis ist natürlich angespannt“, so Kurz im ORF. Sein türkischer Amtskollege Mevlüt Cavusoglu hatte Wien zuvor als „Hauptstadt des radikalen Rassismus“ bezeichnet. Anlass waren Äußerungen des österreichischen Bundeskanzlers Christian Kern, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei seien „nur noch diplomatische Fiktion“.
Kurz sagte: „Wenn wir noch zu unseren Grundwerten stehen, können wir nur eine klare Meinung haben.“ Die zurzeit herrschende breite Diskussion zum Umgang mit der Türkei sei angesichts der Massenverhaftungen nach dem Putschversuch bitter notwendig, Die EU könne nach den Entwicklungen nicht einfach zum Alltag übergehen, betonte Kurz: „Die Türkei hat sich in den letzten Jahren immer weiter weg entwickelt von der Europäischen Union. All das kann die Europäische Union nicht einfach achselzuckend zur Kenntnis nehmen.“ Kurz hatte am Freitag den türkischen Botschafter in Wien einbestellt.
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CDU-Vize hält Abbruch für falsch
In der großen Koalition stößt die Forderung Österreichs auf Ablehnung. So hat sich der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl für eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ausgesprochen. Man müsse im Gespräch bleiben, deshalb wäre derzeit ein Abbruch der Verhandlungen falsch, sagte der baden-württembergische Innenminister der „Passauer Neuen Presse“.
„Aber je nachdem, wie sich die Türkei – etwa beim Stichwort Todesstrafe – entwickelt, wird Europa sagen müssen: Stopp, das geht nicht, damit wird eine rote Linie überschritten, unter diesen Bedingungen macht es keinen Sinn, über einen EU-Beitritt auch nur zu sprechen.“ Ähnlich hatte sich zuvor schon Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier geäußert. Er hatte die türkische Regierung davor gewarnt, die Todesstrafe wieder einzuführen.
Es wird höchste Zeit, dass immer mehr Staaten den Völkermord an den Armeniern anerkennen. Die Türkei wehrt sich seit Jahren gegen die internationale Anerkennung des Völkermords an den Armeniern, hat damit aber immer weniger Erfolg. Merkel fehlte natürlich bei der Abstimmung im deutschen Bundestag, wie auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel. Die Türkei zeigt keinen Willen zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels.
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Ministerpräsident Binali Yildirim bekräftigte unterdessen die offizielle Linie, nach der sich die Türken nichts vorzuwerfen haben, was ihre Geschichte angeht. Wenn es darum gehe, Verbrechen der Vergangenheit gegeneinander aufzurechnen, sei sein Land erst ganz am Ende an der Reihe, sagte er. Auch Nationalistenchef Devlet Bahçeli sagte, die Türkei habe eine „blitzsaubere Geschichte“.
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Armenier-Genozid: Das türkische Entrüstungsritual
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Demonstrationen vor dem Reichstag in Berlin / Bild: (c) REUTERS (HANNIBAL HANSCHKE)
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Vor Deutschland haben schon viele andere Staaten den Armenier-Genozid anerkannt, darunter auch Österreich. Die türkische Regierung hat stets scharf reagiert.
Istanbul. Mit Warnungen, Drohungen, diplomatischen Protestaktionen und manchmal auch konkreten Sanktionen wehrt sich die Türkei seit Jahren gegen die internationale Anerkennung des Völkermords an den Armeniern. In jüngster Zeit hat Ankara damit immer weniger Erfolg. Mehr als 20 Staaten, darunter Österreich und EU-Führungsnationen wie Frankreich und nun Deutschland, erkennen die Massaker an der christlichen Minderheit im Ersten Weltkrieg als Völkermord an. Und wie im Fall Deutschlands wurde der türkische Botschafter auch aus Österreich zurückberufen, als der Nationalrat im April 2015 den Völkermord an den Armeniern verurteilte.
Der Armenier-Entwurf des Deutschen Bundestages, der trotz türkischer Warnungen und einer persönlichen Intervention von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei Kanzlerin Angela Merkel angenommen wurde, ist ein schwerer Schlag für die türkischen Bemühungen, die Anerkennungswelle zu stoppen. Erst vor Monaten hatte die Türkei einen Armenier-Streit mit dem Vatikan beigelegt. Anlass war eine Äußerung von Papst Franziskus, der die Massaker an den Armeniern als „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ gegeißelt hatte. Ankara zog seinen Botschafter aus dem Vatikan für einige Zeit ab.
Zusammenarbeit ausgesetzt
Türkische Botschafter in Frankreich, Brasilien und Luxemburg wurden nach Armenier-Entscheidungen der Parlamente vorübergehend „zu Konsultationen“ nach Ankara zurückbeordert, wie es in der Sprache der Diplomatie heißt. Als Frankreich darüber hinaus die Bestrafung einer Leugnung des Völkermords beschloss, legte die Türkei die politische und militärische Zusammenarbeit mit Paris auf Eis. Das Gesetz wurde jedoch kurz darauf vom Verfassungsrat kassiert.
Die Schweiz scheiterte mit einem Gesetz zur Kriminalisierung der Genozid-Leugnung 2015 vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Die Straßburger Richter urteilten im Fall des nationalistischen türkischen Politikers Dogu Perincek, der den Völkermord leugnete, das Schweizer Gesetz verstoße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet die Türkei die Entwicklung in den USA, wo Politiker und armenische Verbände jedes Jahr zum Jahrestag der Massaker am 24. April verlangen, der Präsident möge in seiner traditionellen Stellungnahme den Begriff des Völkermordes verwenden. Bisher haben alle Präsidenten wegen der Bedeutung des Partners Türkei auf eine Geißelung der Ereignisse als Genozid verzichtet. (güs)
AUF EINEN BLICK
Bis zu 1,5 Millionen Armenier kamen bei dem Massenmord im Osmanischen Reich 1915/1916 ums Leben. Die Regierung der Jungtürken sah in der christlichen Minderheit einen Feind. Es folgten Massaker und systematische Vertreibung. Historiker sprechen vom „ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“. Auch das Europaparlament und mehr als 20 Staaten stufen die Taten als Genozid ein.
Wenn man sich mit so einem lupenreinen Autokraten wie Erdogan, auf dem Weg zum Diktator, einlässt, muss man sich auf vieles gefasst machen.
Erdogan will sich ja nicht mehr an eine Änderung der Anti-Terrorgesetze in der Türkei halten, die mit Davutoglu ausverhandelt wurden. Da dürfte er dann ja nicht mehr Journalisten und Oppositionelle als Terroristen bezeichnen und verfolgen. Außerdem braucht er die schnelle Bezeichnung als Terrorist vor allem auch für die Kurden, die er sogar außer der Landesgrenzen bekämpfen will.
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Es muss auch ohne Erdoğan gehen
Die EU darf sich vom türkischen Präsidenten nicht erpressen lassen. Sie muss für die Flüchtlingspolitik wieder Verantwortung übernehmen. Das ist sie sich selbst schuldig.
Der türkische Präsident gibt mal wieder den ganz starken Mann – nach innen wie nach außen. „Geh deinen Weg. Wir gehen unseren Weg„, verkündet Recep Tayyip Erdoğan in Richtung EU und droht unverhohlen damit, das Flüchtlingsabkommen mit der europäischen Gemeinschaft aufzukündigen. Seitdem sind Politiker in Brüssel, Berlin und anderen Hauptstädten in größter Sorge, dass er seine Drohungen wahr machen könnte.
Aber wäre das wirklich so schlimm?
Ja, der Deal funktioniert, einerseits. Kamen von Anfang des Jahres bis zum Inkrafttreten des Abkommens noch fast 2.000 Flüchtlinge pro Tag aus der Türkei über die Ägäis nach Griechenland, sind es jetzt nur noch gut ein Dutzend täglich. Und kaum noch jemand ertrinkt bei der Überfahrt.
Doch die Vereinbarung hat auch gravierende Schattenseiten. Niemand weiß genau, was mit den Flüchtlingen geschieht, welche die Türkei aufgrund der Vereinbarung aus Griechenland zurücknimmt. Von Amnesty International gibt es Berichte, dass selbst syrische Flüchtlinge in ihr Bürgerkriegsland abgeschoben werden – was ein klarer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention wäre. Vielleicht will das in der EU aber auch keiner so genau wissen. Die Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten in der Türkei ist zudem nach wie vor völlig unzureichend, trotz der Milliarden, die Brüssel an Ankara überweist.
Noch gravierender ist jedoch, dass sich die EU in ihrer Not an den türkischen Machthaber gebunden hat. An einen Politiker, der die Presse- und Meinungsfreiheit und die Menschenrechte mit Füßen tritt, der gerade erst wieder zwei kritische Chefredakteure für fünf Jahre ins Gefängnis werfen ließ und der selbst vor Satirikern in anderen Ländern wie Jan Böhmermann nicht haltmacht. Erdoğan bestimmt die Politik in der Türkei, das gilt in noch größerem Ausmaß, nachdem vergangene Woche der bisherige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu seinen Rückzug ankündigte.
Davutoğlu hatte das Flüchtlingsabkommen mit Merkel ausgehandelt, er war das freundliche, diplomatischere Gesicht des Erdoğan-Regimes. Aber er wurde Erdoğan in dessen Allmachtswahn offensichtlich unbequem, weil er sich nicht allem beugte.
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Die EU muss sich entscheiden
Nun zeigt der ganz unverstellt, was ihm das Flüchtlingsabkommen bedeutet: nichts. Erdoğan ist einzig und allein an der europäischen Visafreiheit für seine Landsleute interessiert. Aber den Preis dafür will er nicht zahlen: eine Reform der türkischen Antiterrorgesetze, die auch Kritiker der Regierung bedrohen.
Will sich die EU von Erdoğan weiter unter Druck setzen lassen und aus Furcht, dass er die Flüchtlingsschleusen wieder öffnet, ihre eigenen Kriterien für die Visafreiheit aufweichen?
Sie sollte sich besser für ihre Werte entscheiden. Es darf für die Türkei, wenn sie irgendwann einmal Mitglied werden will, keinen Rabatt von den europäischen Grundrechten und Grundprinzipien geben – auch wenn sie ihr derzeit aus der Flüchtlingspatsche hilft und auch nicht über den Umweg der Visafreiheitsverhandlungen. Die Gemeinschaft sollte sich von dem Deal und von der Abhängigkeit von Erdoğan freimachen.
Nicht hinter dem Türkei-Deal verstecken
Eine eigene, europäische Lösung wäre ohnehin der bessere und humanere Weg. Auch wenn das mit neuen Mühen und Anstrengungen verbunden wäre. Auf den griechischen Inseln müssten die Hotspots reaktiviert werden, wenn dort wieder Hunderte, wenn nicht Tausende Flüchtlinge pro Tag landen sollten. Und die Mitgliedstaaten müssten sich darüber verständigen, wer zurückgeschickt werden soll und welches Land wie viele der Menschen aufnimmt, die bleiben dürfen.
Es ist abstoßend wie sich dieser Regierungschef verhält und wie er Journalisten einschüchtert. Die beiden Journalisten der Zeitung „Cumhuriyet“ hatte er selbst angezeigt und er respektiert auch nicht den Freispruch der Staatsanwaltschaft. Die zwei Journalisten sollen verurteilt werden, weil sie nichts anderes als die Wahrheit schrieben. Dafür sollen sie, wenn es nach Erdogan geht, lebenslänglich bekommen.
Türkei:Erdogan erregt sich über Diplomaten bei Journalisten-Prozess
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DPA -Recep Tayyip Erdogan
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„Wer sind Sie? Was machen Sie da?“ Voller Wut hat sich der türkische Präsident Erdogan über Diplomaten geäußert, die den Prozess gegen zwei prominente Journalisten besucht haben.
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Recep Tayyip Erdogan hat den deutschen Botschafter in der Türkei und andere Diplomaten scharf kritisiert, weil sie einen Prozess gegen zwei prominente Journalisten besucht haben.
Der türkische Präsident reagierte mit einem Wutausbruch auf die Prozessbeobachter. „Dies ist nicht Ihr Land, dies ist die Türkei“, empörte er sich am Samstag in einer vom Fernsehen übertragenen Rede.
„Diplomatie unterliegt einem gewissen Anstand und Umgangsformen.“ Die Diplomaten könnten im Rahmen ihrer Vertretungen tätig werden, ansonsten sei eine Erlaubnis nötig.
In Istanbul hat am Freitag der höchst umstrittene Prozess gegen die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül der regierungskritischen, oppositionsnahen Zeitung „Cumhuriyet“ begonnen. Sie müssen sich nach einem Bericht über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien wegen des Vorwurfs der Spionage und des Verrats von Staatsgeheimnissen verantworten. Erdogan hatte dies als rufschädigend für die Türkei bezeichnet. Den Angeklagten drohen lebenslange Haftstrafen.
Erdogan hatte persönlich Strafanzeige gestellt und tritt im Prozess als Nebenkläger auf. Zum Prozessauftakt waren etwa 200 Besucher ins Gericht gekommen, darunter Kollegen, Oppositionspolitiker, einfache Bürger und ausländische Diplomaten. Erdogan warf den Diplomaten nun vor, sie hätte „Stärke demonstrieren“ wollen. „Wer sind Sie? Was machen Sie da?“, rief er wütend in seiner Rede aus.
Öffentlichkeit vom Prozess ausgeschlossen
Der Prozess findet künftig hinter verschlossenen Türen statt. Die Richter gaben zum Prozessauftakt einem entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft statt. Die Unterstützer der beiden Angeklagten im Gerichtssaal reagierten empört auf den Ausschluss der Öffentlichkeit.
Gegen den Prozess hatten der Europarat, internationale Journalistenverbände sowie unter anderem mehr als hundert Autoren in einem offenen Brief protestiert, darunter Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa.
Kritiker werfen der türkischen Regierung ein zunehmend repressives Vorgehen gegen oppositionelle Medien vor. Auf einer Rangliste zum Stand der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten. Dutzende Journalisten sind in dem Land inhaftiert.
Im Video (auf der „Spiegel“-Seite): Der Prozessauftakt in Istanbul
Selbst im Gefängnis ist er nicht zum Schweigen zu bringen. Von seiner Zelle im Silivri-Gefängnis am Stadtrand von Istanbul aus schreibt Can Dündar weiter gegen den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Und die Zeitung bringt neue Enthüllungen.
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Can Dündar. (Screenshot: Youtube)
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Der Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ sitzt dort seit Ende November wegen des Vorwurfs der „Spionage“ und der „Verbreitung von Staatsgeheimnissen“ ein. Er ist zur Symbolfigur der Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit durch die islamisch-konservative Regierung in der Türkei geworden.
Hintergrund des repressiven Vorgehens gegen die renommierte Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ ist deren Berichterstattung über die Unterstützung islamistischer Kämpfer in Syrien durch die türkische Regierung. Im Mai hatte die Zeitung ein Video veröffentlicht, das Lastwagen des türkischen Geheimdienstes MIT zeigt, die im Januar 2014 Waffen für die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) über die Grenze nach Syrien liefern sollten. Erdogan hatte dies als „Verrat“ angeprangert und versichert, dass Dündar dafür „einen hohen Preis bezahlen“ werde.
Nach der vorgezogenen Parlamentswahl in der Türkei, bei der sich Erdogans Partei AKP die absolute Mehrheit zurückholen konnte, wurden Chefredakteur Dündar und sein Büroleiter in Ankara, Erdem Gül, im November inhaftiert und angeklagt. Seither warten sie im Gefängnis von Silivri auf ihren Prozess, für dessen Beginn es noch kein Datum gibt.
Doch Dündar, ein berühmter Journalist in der Türkei und Autor mehrerer Bücher, schreibt seine Kolumnen für „Cumhuriyet“ einfach weiter – jetzt vom Gefängnis aus. Die erste dieser Kolumnen, die zu Weihnachten erschien und den Titel trug „Ein Anfänger-Spion“, beschrieb seine Ankunft im Gefängnis.
Mit einem kräftigen Schuss Ironie erzählte Dündar, dass sie bei ihrer Ankunft im Gefängnis gefragt worden seien, weshalb sie dort seien – wegen „Terrorismus oder allgemeinem Strafrecht“? Daraufhin habe er ernst geantwortet: „Ich bin ein Spion.“ Er fügte hinzu: „Aber wenn sie mich gefragt hätten, für welches Land, dann hätte ich keine Antwort geben können.“
Auch die Zeitung lässt sich nicht einschüchtern. „Dreckige Beziehungen mit dem IS an der Grenze“, titelte das Blatt erst vor wenigen Tagen. Es veröffentlichte ein Protokoll eines Gesprächs zwischen türkischen Militärvertretern und Dschihadisten, deren Grenzübertritt nach Syrien organisiert werden sollte.
„Wir machen nur unsere Arbeit, die darin besteht, die Öffentlichkeit über das zu informieren, was in unserem Land vor sich geht“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Tahir Ozyurtseven, der während Dündars Abwesenheit die Zeitung leitet. Jeden Dienstag besucht er seinen Chefredakteur im Gefängnis und bespricht mit ihm die Berichterstattung. Aus Protest gegen die Inhaftierung von Dündar und Gül hielten die Journalisten kürzlich ihre Redaktionskonferenz direkt vor den Toren des Gefängnisses ab.
„Zu versuchen, weiterhin die Wahrheit zu sagen, ist ein täglicher Kampf für jeden von uns“, sagt Ozyurtseven. Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen ist die Türkei inzwischen auf den 149. Platz abgerutscht, nur knapp vor Russland auf Platz 152. EU-Regierungen und Nichtregierungsorganisationen kritisieren regelmäßig die zunehmende Repression gegen Medien und Oppositionelle in der Türkei.
Vor Dündars Gefängnis wechseln sich derweil Journalisten, Abgeordnete und Künstler bei einer Mahnwache ab. Der weltweit bekannte Pianist Fazil Say erklärte vor wenigen Tagen, der Umgang mit Dündar und Gül sei „eine Schande für die Türkei“.
Dass die beiden Journalisten auch aus dem Gefängnis heraus die Macht ihrer Worte weiter nutzen, hatten sie freilich schon Ende November vor dem EU-Türkei-Gipfel deutlich gemacht. In einem Brief an mehrere EU-Staats- und Regierungschefs, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), warnten sie die Europäer davor, ihre Werte für ein Entgegenkommen Ankaras in der Flüchtlingskrise zu verraten. Eindringlich mahnten Dündar und Gül: Die türkische Regierung lasse „jede Achtung und jeden Respekt für die Meinungs- und Pressefreiheit vermissen“.