Aushilfslehrer? Ein lockerer Job, denkt Philipp Möller bis zur ersten Stunde in seiner neuen Klasse: Musikstunden erinnern an DSDS, hyperaktive Kids flippen aus, und zum Frühstück gibt es Fastfood vom Vortag.

Möllers Geschichten aus dem deutschen Bildungschaos sind brisant und berührend und dabei immer urkomisch. Hier ein kleiner Auszug: „Heute ist Klassenausflug. Bowlen – damit die Kinder sich endlich mal so richtig austoben können. Als ich den Klassenraum betrete, stürmen die ersten schon auf mich zu. ‚Herr Mülla, iebergeil!‘, ruft Ümit. ‚Isch mache Strike, ja? Schwöre, schmache eine Strike!‘ Mit wilden Bowling-Trockenübungen steht er vor mir. Wenn er nachher tatsächlich so bowlt, nehme ich mir besser einen Helm mit.“

„Man lacht, man erschrickt, man weint vielleicht sogar aufgrund der schon sehr harten Erlebnisse … Aber auf alle Fälle lernt man eine Menge.“
berliner-akzente.de
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ISCH GEH MIT U-BAHN

Der öffentliche Nahverkehr in Berlin ist immer eine Reise wert. Mit ein bisschen Glück kann man bei einer Fahrt mit den Verkehrsmitteln der Hauptstadt filmreife Szenen erleben. Als ich die U-Bahn betrete, bin ich mit meinen Gedanken jedoch bereits woanders – und zwar in der Schule. Denn heute trete ich meinen neuen Job als Grundschullehrer an.

Zwischen Musikanten, Verkäufern von Straßenmagazinen und Fahrgästen verschiedensten Umfangs, Alters und Milieus suche ich mir einen Sitzplatz und blicke erst wieder auf, als der Hauptdarsteller der nächsten Szene die Leinwand betritt – selbstverständlich mit einem Handy am Ohr.
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»Hamoudi, was los? Was machst du?«, ruft er beim Betreten des Waggons lauthals in sein Mobiltelefon. Als er eine aufgebrezelte Blondine entdeckt, glotzt er ihr unverschämt ins Dekolleté und zwinkert ihr dann grinsend zu. Ihr demonstratives Desinteresse kommentiert er mit einem sehr unfeinen Wort und nimmt dann mir gegenüber Platz.

Na prima, denke ich, wieder einmal werde ich unfreiwilliger Zuschauer der endlosen Daily Soap Willkommen auf dem Planeten Hartz IV. Drehbuch und Regie: das Leben. Produzenten: die politische Sabotage an der deutschen Bildung, die noch immer andauernde Abwesenheit einer funktionierenden Integrationspolitik und der stetige Abbau unseres Sozialsystems.
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Während der Protagonist in voller Lautstärke mit seinem Kumpel quatscht, beobachte ich ihn unauffällig. Auf seinem mit reichlich Haarwachs eingefetteten, glänzenden Haupthaar sitzt ein viel zu eng geschnalltes Basecap, am rechten Handgelenk blitzt eine überdimensionale Proleten-Uhr hervor, und auch die schneeweißen Markenturnschuhe sind für jedermann sichtbar. Eine wenig dezente Goldkette und das passende Armband komplettieren sein Outfit – man muss schließlich zeigen, was man hat!

Das gilt offensichtlich auch für seine Kronjuwelen. Die richtige Körperhaltung ist deshalb von großer Bedeutung für seine Rolle. Um rivalisierenden Männchen und paarungsbereiten Weibchen die eigenen Vorzüge zu präsentieren, spreizt er die Beine beim Sitzen weit auseinander. Den Ellenbogen des Telefonarms stützt er auf dem Oberschenkel ab, mit der freien Hand untermalt unser Held die Konversation mit entschlossen wirkenden Gesten.
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»Ja, Mann«, ruft er ins Handy und fuchtelt mit der linken Hand wild in der Luft he rum. »Hau ma rein! Sch’ruf sie an jetzt …«

Er legt auf, dann bemerkt er meinen Blick.

»Was guckst du?«, pöbelt er mich an, doch ich schaue schnell weg. Er lässt seine Kieferknochen bedrohlich mahlen, dann widmet er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten.
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Weil seine Oberarme wahrscheinlich zu muskulös sind, um das Handy für längere Zeit ans Ohr zu halten, und die Benutzung von Headsets vermutlich als schwul gilt, entscheidet er sich, das folgende Telefonat über den Lautsprecher zu führen. So kommt es also dazu, dass ich und das gesamte Zugabteil den Dialog zwischen Mr. Was-guckst-du und der Frau, die er vorübergehend zu seinem Eigentum erklärt hat, in voller Länge mitverfolgen dürfen. Ein solches Glück wird einem nicht oft zuteil.
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»S’los?«, begrüßt sie ihn liebevoll, wo rauf hin er unvermittelt ins Gespräch einsteigt.

»S’machst du?«

Während die männlichen Vertreter seiner Stilrichtung mindestens eine Silbe ihrer kurzen Satzfragmente stark überbetonen, signalisieren die weiblichen durch Einsilbigkeit und Monotonie gern Desinteresse.

»Sch’bin Solarion«, antwortet sie brav.

»Mit wen bist du?«

»Alleine.«

»Warum gehst du?«

»Vallah, sch’seh aus wie Kartoffel, ieberhässlisch!«

Das scheint ihm zu gefallen. Lächelnd schiebt er den Inhalt seiner Unterhose zurecht.

»S’machst du später?«, will er dann wissen.

»Sch’geh Disco.«

»Was?!«

Diese Nachricht lässt seinen Adrenalinspiegel sichtbar nach oben schnellen. Wie kann sie die Frechheit besitzen, ihn davon erst jetzt in Kenntnis zu setzen?

»Mit wen gehst du?«, fragt er sie eindringlich.

»Züsch, sch’geh nur mit Mehtschin!«

»Seit wann weißt du, dass du gehst?«

Diese Frage scheint sie grammatikalisch zu überfordern, sie gerät ins Schleudern.

»Dings, so halt«, antwortet sie nach einem Moment der Stille.

»Was ziehst du an, wenn du gehst?«

Es rauscht und klickt, die Verbindung ist beendet. Aufgeregt verliert der Held die Nerven und brüllt sein Handy an.

»Hallo? Hallo? Schon wieder keine Netz, vallah, irgendwann isch ficke diesem E-Plus!«
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Dann flucht er laut, springt auf und drängelt sich zur Tür. Als der Zug quietschend zum Halten kommt, tritt er auf den Bahnsteig und bleibt dort erst einmal stehen, sodass sich alle anderen Fahrgäste umständlich an ihm vorbeischieben müssen. Mit den Händen in den Hosentaschen sieht er sich auf dem Bahnhof um. Die Bewegungen seiner Kaumuskeln demonstrieren Stärke und Entschlossenheit. Die Luft scheint rein, also setzt er sich in Bewegung und verlässt die Bühne.
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Was für ein Auftritt.

Ja – das ist Berlin! Wer sich davon überzeugen möchte, dem seien der Erwerb einer Tageskarte und eine ausgedehnte Tour durch den westlichen Teil des Tarifbereichs B empfohlen. Der Besucher wird schnell feststellen, dass derlei Auftritte nicht nur denjenigen vorbehalten sind, denen Rechtspopulisten gern den Migrantenstempel aufdrücken, nein: Sie sind überall dort ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, wo die gefährliche Mischung aus Bildungsarmut und Perspektivlosigkeit für Frustration, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft sorgen. Die Schule, an der ich heute meinen neuen Job als Lehrer antrete, liegt in einer der größten Metropolen des geheimnisvollen Planeten Hartz IV – in einem der zahlreichen Berliner Kieze, die von dieser gefährlichen Mixtur betroffen sind.
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Hier weiterlesen:
http://www.weltbild.de/3/17132399-1/buch/isch-geh-schulhof.html#information

 

Gruß Hubert